Kirchenprojekt:Dein Berlin-Mitte komme

Wetter in Berlin

Die Freikirche Berlinprojekt erobert Mitte.

(Foto: dpa)

Eine Berliner Freikirche füllt mit ihren Gemeindemitgliedern - Werbeleuten, jungen Familien, Hipstern - ganze Kinosäle. Das "Berlinprojekt" will offen sein, auch Nichtchristen anziehen und setzt dafür auf alltagstauglichen Glauben.

Von Renate Meinhof

Er sitzt ganz hinten, unter dem Balkon des Saales, am Mischpult, ungefähr da, wo er auch saß, als er vor vier Jahren zum ersten Mal hierherkam. Das war kurz nach der Krankheit. Sie hatte ihn fast das Leben gekostet. Er wollte nicht angesprochen werden damals, von niemandem. Also lieber nach hinten.

Thomas Kotulla, Freiwilliger des Technikteams der Gottesdienstcrew: Er macht den Sound für Jesus.

Jesus im Babylon?

Im Foyer des Kinos Babylon stehen sechs Kinderwagen, edle Modelle, und zwei alte hochbeinige Kutschen aus DDR-Zeiten, mit aufklappbaren Panoramafenstern an drei Seiten. Manche Menschen kaufen so etwas wieder für recht viel Geld auf Ebay oder sonstwo, weil das irgendwie hip ist, hier in Berlin-Mitte, einem Bezirk, den viele längst wieder fliehen, weil das ganze Hipsein einem auch gehörig auf die Nerven gehen kann.

Sonntagmorgen am Rosa-Luxemburg-Platz. Es nieselt. Ein paar Durchgefeierte geistern mit Bierflaschen in der Hand in Richtung U-Bahn. Im Foyer des Kinos sitzen Menschen auf Sesseln, stehen Kinderwagen in der Ecke und auch zwei glänzende Kaffeekessel auf einem schmalen Tresen, denn wer hier um elf Uhr in den Gottesdienst geht, der nimmt sich erst mal einen Becher Kaffee und sucht sich dann einen Platz. Das ist auch irgendwie chic, mit einem Kaffee in den Gottesdienst zu gehen. Nirgends hängt ein Kreuz, unter dem man hindurch muss, um ins Allerheiligste zu gelangen, wie in den Kirchen der Romanik, der Gotik. Es gibt hier kein Allerheiligstes, und nirgends einen Altar, eine Kanzel.

Aber der Saal ist brechend voll, gut

400 Menschen kommen Sonntag für Sonntag in dieses Kino. Und beim Abendgottesdienst, in einem Kreuzberger Saal, sind es noch einmal 150. Sie sind jung, haben kleine Kinder oder noch keine Kinder, sind Intellektuelle, Künstler, Studenten, Werbefilmer, Autoren, Freiberufler.

Christen in Designerjeans

Manche tragen teuren Stoff, teure fledderige Jeans und diese lockeren funktionslosen Häkelmützen, die am Hinterkopf herunterhängen wie die Netzhauben fingerfertiger Frauen in einer Feinkostfabrik.

Christian Nowatzky trägt Jeans und ein Jeanshemd. Als er in Erfurt, im Osten, geboren wurde, 1978 war das, da brachten seine Eltern ihm bei: Du, hör mal zu, Junge, es gibt eine höhere Autorität als diesen Staat hier. Dieser Satz hat ihn geprägt, und mit 13, so wird er es später im Gemeindebüro erzählen, sei er Christ geworden.

Christian Nowatzky ist einer der beiden Pastoren des Berlinprojekts, so heißt diese Gemeinde für die "jungen Kreativen", wie Nowatzky sie nennt, diejenigen also, "die in Mitte, Kreuzberg und Prenzlauer Berg zu Hause sind". Gleich wird der Pastor predigen. Aber noch spielt die Band, singt die Sängerin mit etwas zu schmalziger Stimme: "O, die tiefe Liebe Jesu, frei unfassbar, mächtiglich, rollet gleich dem weiten Meere voll und segnend über mich."

Gegen komplizierte Vergebungsmechanismen

Die Gemeinde (oder soll man sagen: das Publikum?) stimmt nach wenigen Takten ein. Der Text des Liedes stammt aus der Hochzeit der weltweiten Erweckungsbewegungen. Er ist von 1875. In der Predigt geht es dann um die Seligpreisungen Jesu, Matthäus im fünften Kapitel.

"Die Seligpreisungen, das sind die Glückszusagen Jesu", sagt Pastor Nowatzky ins Mikrofon. Und etwas später: "Es geht nicht um irgendein uns niederdrückendes Programm, es geht auch überhaupt nicht um komplizierte Vergebungsmechanismen, ich kann mein Standing bei Gott ja sowieso nie verlieren", sondern "das Lächeln Gottes ist das Ziel deines Lebens".

Das Lächeln Gottes. Man kann das natürlich als schmalspurtheologischen Murks abtun, die Anbetungslieder als pietistische Christusmystik aus dem 19. Jahrhundert belächeln. Man kann aber auch in die Gesichter schauen, die Verinnerlichung wahrnehmen, die betenden Hände. Hörende, offen wirkende Menschen, die sich angesprochen fühlen von dem Ton, den der Pastor da vorn auf der Bühne trifft.

Alltagstaugliche Botschaft

Sie kommen, um die Botschaft von Jesus Christus zu hören, und hier im Babylon wird sie fast erschreckend einfach ausgepackt, alltagstauglich und so, dass sie schwellenlos in ihr Leben dringen kann.

Das Berlinprojekt ist eine von vielen evangelischen Freikirchen, die in der Hauptstadt Fuß gefasst haben. Christian Nowatzkys Gemeinde zählt am ehesten zu den evangelikalen, obwohl dieser Stempel auch wieder gar nicht passt. "Wir ziehen ja gar keine Linien der Abgrenzung", sagt er. "In der Theologie sind wir zentriert auf Christus, aber in den Themen sind wir total pluralistisch und eigentlich so unfertig wie Berlin. Wir haben auch nichts gegen Homosexuelle oder Frauen, die Pastoren werden." Den letzten Satz sagt der Pastor mit derart angestrengter Stimme, dass man merkt, wie oft er ihn schon, aus einer Verteidigungshaltung heraus, gesagt hat.

Das Berlinprojekt gehört zum Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland, der 1874 gegründet wurde. Es gibt keine Mitgliedschaft im Berlinprojekt, keinen Kirchenraum, nur das Gemeindebüro in der Saarbrücker Straße. Das Babylon und der Kreuzberger Saal werden sonntags gemietet. Jeder kann kommen und gehen, wie er will. Jeder kann spenden, wenn er will. Und die Gemeinde schafft es tatsächlich, sich selbst zu finanzieren. 23.000 Euro gehen im Monat an Spenden ein. Rechnet man mal 450 Menschen zum festen Gemeindestamm, dann zahlt jeder und jede im Monat durchschnittlich 50 Euro.

Mitten in der Welt statt in theologischen Höhen

Nowatzky sagt: "Ist doch super, wenn das Berlinprojekt den Leuten so viel wert ist wie ein Fitnessstudiobetrag." Ohne ehrenamtliche Arbeit geht es natürlich nicht, gerade wurde Iris Kent eingestellt, die diese Arbeit koordiniert. Bis jetzt war sie Unternehmensberaterin. Allein für das Organisieren eines Gottesdienstes sind 17 Teams vonnöten, die, als Beispiel nur, die Musik, den Blumenschmuck, die Kinderbetreuung und das Abendmahl gestalten.

Nun haben in den Berliner Zentrumsbezirken auch die Gottesdienste der Landeskirche guten Zulauf, aber zum Berlinprojekt wagen sich auch Menschen, die sich gar nicht als gläubig bezeichnen würden. Das hat natürlich etwas mit dem Raum zu tun, mit der Schwellenlosigkeit. "Die Leute gehen hier ins Kino, und sie gehen in den Gottesdienst", sagt Pastor Nowatzky, "es ist ein Ort mitten in der Welt." Die Gottesdienste in den Kirchen seien oft für Nichtchristen gar nicht zu verstehen, "bei uns sind die Leute, die auf der Bühne sind, ganz normale Typen, die über den Glauben reden, das ist doch besser als eine Phrase, die leer bleibt."

Zu diesem Thema wird Wilhelm Gräb, dessen Arbeitszimmer dem Berliner Dom gegenüber und nur fünf Fahrradminuten vom Babylon entfernt an der Spree liegt, sofort sagen: Wie gut! Schließlich müsse man sich "in traditionellen Gottesdiensten ja ständig in vergangene Jahrhunderte zurückversetzen, um überhaupt folgen zu können".

"Neue religiöse Szenarien"

Gräb ist Professor für Praktische Theologie an der Humboldt-Universität, und Freikirchen wie das Berlinprojekt beobachtet er seit Langem. Dort, sagt er, würden "neue religiöse Szenarien geschaffen, Inszenierungen, die den Menschen ohne reflexive Entschlüsselungsbemühungen unmittelbar unter die Haut gehen. Am Ende fühlen sie: Auf meinen Glauben kommt es an, und wenn ich mich für den Glauben entscheide, dann kann mein Leben gelingen." Religiöse Kommunikation ist "Gefühlstransfer". Der großkirchlichen Praxis, sagt der Professor, täten diese pietistischen Ansätze gut, "um die Lebenssinnfragen der Menschen zu beantworten". Alltagsethische Ausrichtung, das sei das Stichwort.

Genau darum ging es auch Christian Nowatzky damals, als er zusammen mit seinem Studienfreund Konstantin von Abendroth - er ist der zweite Pastor - vor acht Jahren das Berlinprojekt gründete. Und sie wollten eine offene Kirche für die Stadt ins Leben rufen. Aber wie?

Christian Nowatzky sagt: "Viele Menschen hier machen extreme Erfahrungen, sei es im Job, im Sex, bei Partys. Denen können wir sagen: Macht das alles, lebt, genießt, und genau dann, wenn ihr merkt, dass da noch etwas fehlt, dass etwas offen ist und unbeantwortet, dann kommt zum Berlinprojekt. Das meint Jesus doch, wenn er sagt: Ich bin das Brot des Lebens."

Suche nach dem besseren Leben

Thomas Kotulla vom Technikteam sitzt auf seinem Sofa, zu Hause, ein prächtiges Mietshaus am Lietzensee in Charlottenburg. Kotulla wohnt im Seitenflügel, ganz oben. Licht dringt in sein Wohnzimmer und das gedämpfte Rattern der S-Bahn. Er ist schmal, ein junger Mann, promovierter Wirtschaftswissenschaftler.

Als Thomas Kotulla zum Berlinprojekt kam, hatte er seine extreme Erfahrung schon hinter sich. Er war mit 26 schwer krank geworden, ein Bakterium, dem Ehec-Erreger sehr ähnlich, hatte ihn befallen, aber kein Arzt erkannte, warum Kotullas Körper plötzlich begann, die eigenen Nieren zu zerstören. Er magerte ab, und schließlich gab ihm ein Arzt in der Klinik zu verstehen, dass er, Thomas Kotulla, 26 Jahre alt, sich nun mit dem Thema Tod auseinandersetzen müsse. Sanft war das nicht. Kotulla, wenn er von diesen Stunden erzählt, hat plötzlich wieder Angst im Gesicht. "Wie viel Zeit hab' ich denn noch?", hat er den Arzt gefragt. Er hat keine Antwort bekommen, natürlich nicht, wer wollte sich anmaßen, die Zahl der Tage zu nennen, die einem Menschen bleiben.

"Alle wollten mich trösten", sagt Thomas Kotulla, "aber das waren nur Pflaster." Und dann saß ein Freund an seinem Bett. "Du, es ist nicht wichtig, ob du noch ein Jahr lebst oder fünfzig", hat er gesagt, "es gibt ein ewiges Leben." Kotulla sagt: "Ich wollte das glauben, und deshalb habe ich angefangen zu suchen." Er, der Wissenschaftler, der "nie bereit ist, den Verstand auszuschalten".

Als endlich eine Ärztin erkannte, wie der junge Mann zu behandeln sei, als er langsam zu Kräften kam, da begann seine Suche. Sie führte ihn zu Baptisten, zu Katholiken, die ihn einst getauft hatten, in evangelische Kirchen und, irgendwann, in die letzte Reihe des Kinos Babylon in Berlin Mitte.

Quälende Urfragen

Im Babylon ist er geblieben. Warum? "Nicht, weil der Gottesdienst so lifestylemäßig daherkommt", sagt er. "Ich hatte das Gefühl, diese Christen hier leben ein besseres Leben als ich."

Einmal, ganz am Anfang, haben sie ihn gefragt: "Du, dürfen wir für dich beten?" Kotulla sagt, er habe bei dem Satz richtig schlucken müssen: "Was? Die glauben tatsächlich, dass Gebete helfen?" Gerade hat er ein Buch veröffentlicht, das den Urfragen der Menschen nachgeht, dem Glauben. "Die Begründung der Welt", heißt es. "Wie wir finden, wonach wir suchen."

Das Gemeindebüro in der Saarbrücker Straße ist so etwas wie das Pfarrhaus des Berlinprojekts. Iris Kent, die Gemeindeentwicklerin, sitzt hier. Eine Seelsorgerin hat ein Büro - genau wie die freiwillige Buchhalterin, die stundenweise kommt.

Und natürlich die Pastoren. Ein sehr modernes Pfarrhaus ist das, ohne Talare und gestärkte Beffchen in alten Eichenschränken. In diesen Räumen kann man sich genauso gut eine Werbeagentur vorstellen. Wäre da nicht das etwas angestrengte Gesicht des Pastors Konstantin von Abendroth, der über der Predigt für den Sonntag sitzt. Christian Nowatzky steht in der Tür zum Büro seines Kollegen. Lächelnd steht er da, entspannt. Er ist ja erst wieder am übernächsten Sonntag dran. "Eine Predigt ist eine Wahnsinnsanstrengung in der Vorbereitung", sagt er, "aber es hat ja seinen Grund, dass man für eine Gotteserfahrung nicht einfach Youtube anklicken kann."

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