Eine Gruppe Freundinnen Anfang 30 beim Italiener. Gerade ging es um die nervigen Kollegen, den arbeitslosen Partner, die Eltern, die langsam in Ruhestand gehen. "Da kämen ihnen ein paar Enkel gerade recht", sagt Anne und nippt am Weißbier. Anne führt eine Fernbeziehung, macht ihren Doktor und kann mit dem Gedanken an ein Baby momentan nichts anfangen. Die anderen genauso wenig: Annabel hatte ewig keine Beziehung mehr, Lena arbeitet 50 Stunden die Woche, Marie hat gekündigt und plant, die kommenden Monate durch Südamerika zu reisen.
Klar, man würde gern jung Mutter werden, denn junge Mütter sind irgendwie cool. Aber dann gibt es da den Job, die Reisepläne, die Selbstverwirklichung. Also Kinder ja bitte, aber lieber später. Irgendwann.
Zum Jahresende präsentieren wir die Lieblingstexte der Redaktion, die 17 aus 2017. Alle Geschichten finden Sie auf dieser Seite.
Dass eine Sache längst entschieden ist, verdrängen sie großzügig: Niemand an diesem Tisch wird mehr jung Mutter. Und als Julia, die Ärztin ist, einwirft, dass es womöglich nicht leicht wird mit dem Kinderkriegen, dass die Wahrscheinlichkeit schwanger zu werden sinkt und die Anfälligkeit für Fehlbildungen beim Baby wächst, rollen die anderen mit den Augen und reden schnell über etwas anderes. Über die Dinge, die sie noch machen wollen, bevor Tag X da ist und das Leben in seine mit Babybrei verklebte Phase eintritt.
Über künstliche Befruchtung reden sie nicht, sie denken nicht einmal daran. Und sitzen dem gleichen Trugschluss auf wie viele Menschen: Sie gehen davon aus, man könne Kinder zu dem Zeitpunkt bekommen, an dem es einem gefällt. Problemlos auch mit Mitte, Ende 30, vielleicht sogar Anfang 40.
Tatsächlich ist in Deutschland aktuell jede zehnte Frau bei der Geburt ihres Kindes 38 oder älter. Paare lassen sich mit dem Kinderkriegen mehr Zeit als früher. Und die Reproduktionsmedizin boomt: 96 000 Kinderwunschbehandlungen gab es in Deutschland 2015. Mehr waren es nur unmittelbar vor der Einführung des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes 2004, als die Krankenkassen noch einen Großteil der Kosten übernahmen.
Frauen entscheiden sich immer später für ein Kind - das ist der Hauptgrund für den Anstieg der Behandlungen, wenngleich nicht der einzige: Der Kinderwunsch homosexueller Paare wird zunehmend anerkannt, weshalb heute mehr sogenannte Regenbogenfamilien gegründet werden. Auch, dass es in Westeuropa kaum noch Kinder gibt, die adoptiert werden könnten, ist ein Faktor. Und dann ist da das Internet, über das Informationen mit ein paar Klicks zugänglich sind - sowohl zu künstlicher Befruchtung und Samenspende als auch zu Praktiken, die hierzulande verboten sind, wie Eizellspende und Leihmutterschaft.
"Wer in die Praxis kommt, ist in der Regel gut informiert", sagt Andreas Jantke, Leiter eines Kinderwunschzentrums in Berlin. Die Stimme des Gynäkologen klingt am Telefon ziemlich zufrieden, als er sagt, der Besuch in der Kinderwunschklinik sei gerade "en vogue".
Wer sich vor zehn, fünfzehn Jahren in die Hände eines Reproduktionsmediziners begab, wurde schief angeschaut, der Eingriff in die Natur mindestens als merkwürdig eingestuft. "Unfruchtbarkeit gilt seit jeher als Stigma", sagt die Medizinethikerin Claudia Wiesemann, die sich als Mitglied des Deutschen Ethikrats mit den gesellschaftlichen Implikationen der Reproduktionsmedizin beschäftigt. Das Stigma habe sich noch vor wenigen Jahren auch auf Paare übertragen, die versuchten, sich ihren Kinderwunsch durch künstliche Befruchtung zu erfüllen. Mittlerweile gilt es dagegen als normal, sich assistieren zu lassen. Schon das Wort "assistieren" drückt das aus.
Der Kulturwissenschaftler und frühere SZ-Kollege Andreas Bernard ist für sein Buch "Kinder machen" um die Welt gereist, hat Kinderwunschkliniken und Eizellbanken, Spender und Spenderkinder besucht. Er kommt zu dem Schluss, die künstliche Befruchtung gelte inzwischen "eher als Variante der natürlichen Empfängnis (...) nicht als deren Gegensatz".
Die 1,4 Millionen ungewollt kinderlosen Paare, die das Allensbach-Institut in Deutschland gezählt hat (etwa jedes zehnte Paar zwischen 25 und 59 Jahren ist der Studie zufolge betroffen), dürften die neue Offenheit begrüßen. Sie können heute freier über ihre Nöte sprechen, über die Sehnsucht nach einem leiblichen Kind und die Versuche, sich den Wunsch zu erfüllen.
Wie alt war noch mal Halle Berry?
Gleichzeitig hat der entspanntere Umgang mit der Fortpflanzungsmedizin zu eben jenem Trugschluss beigetragen, von dem eingangs die Rede war. Späte Schwangerschaften gelten als normal. Strapazen und Risiken werden ausgeblendet, gefördert durch die Versprechungen der Kinderwunschindustrie und das dankbare Schweigen der Paare, bei denen es endlich geklappt hat. Die Biologie gerät aus dem Blick: Auch wenn wir uns noch so jung fühlen - der Zeitraum, in dem wir am einfachsten Kinder bekommen können, verschiebt sich nicht nach hinten.
Problematisch ist weniger, dass Frauen und Männer spät Eltern werden wollen. Sondern, dass sie immer später beginnen, sich überhaupt mit dem Thema auseinanderzusetzen. Wenn sie sich dann endlich informieren, bleibt bisweilen gar kein anderer Weg mehr als der in die Kinderwunschklinik.
Das Gefühl, noch warten zu wollen, speist sich oft aus diffusem Halbwissen. Hat nicht vor Kurzem eine 65-Jährige Vierlinge bekommen? Zugegeben, das war extrem, wer will schon als Titelgeschichte der Bild-Zeitung enden. Aber wenn 65 funktioniert, ist 40 doch im Rahmen, oder? Prominente wie Halle Berry, Uma Thurman, Janet Jackson und Caroline Beil machen vor, dass die Sache mit der späten Mutterschaft klappt - und sie sehen dabei hinreißend aus. Hieß es nicht gerade, die Lebenserwartung in Industrieländern werde künftig auf 90 Jahre steigen? Überhaupt, 30 ist das neue 20, warum sollten sich 30-Jährige also mit Kindern befassen? Sie sind doch selbst gerade erst erwachsen geworden.