Süddeutsche Zeitung

Moderne Kinderlieder:Ich bin nicht niedlich!!!

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Die Band "Deine Freunde" verzeichnet während der Pandemie Verkaufsrekorde, der "Deichkind"-Frontmann bringt ein Kinderalbum raus. Eltern finden die Musik ihrer Kinder plötzlich cool. Aber ist sie wirklich so viel anders als vor 30 Jahren?

Von Heike Nieder

Es ist 21 Uhr, die Stimmung geladen. Die Eltern wollen endlich ihre Ruhe, die Kinder aber nicht ins Bett. Die Tochter mag "noch kurz" ein Bastelbild kleben, der Sohn ist im Lego-Wahn. Da platzt der Mutter der Kragen: "Ich zähl jetzt bis drei! EINS!...." Und während sie die ZWEI noch hinauszögert, weil weder am Schreibtisch noch auf dem Boden etwas passiert, beginnt eine Männerstimme in ihrem Kopf zu rappen: "Mein lieber Freund, ich zähl bis drei!"

Wie oft haben Eltern dieses Lied in den vergangenen Tagen, Wochen, Monaten wohl gehört? 30, 70, 100 Mal? Auch die Refrains von "Hausaufgaben", "Du bist aber groß geworden" oder "Erwachsene wissen auch nicht alles" beherrschen inzwischen nicht nur Kinder, sondern auch viele Eltern fehlerfrei. Kein Wunder: Die Musik von Deine Freunde lief in vielen Familien während der Pandemie in Endlosschleife. Im zweiten Lockdown feierte die Hamburger Band ihren bisher größten Verkaufserfolg: Das im November 2020 erschienene Weihnachtsalbum eroberte sofort Platz fünf der Albumcharts, direkt hinter Bruce Springsteen und den Ärzten.

Das gemeinsame Musikhören im Corona-Alltag hat einen Effekt verstärkt, der bereits vorher schon sichtbar war: Eltern finden die Musik ihrer Kinder plötzlich cool. "Ich muss beichten: Ich bin 40 und höre Deine Freunde fast öfter als meine Kids", lautet der erste Kommentar unter einem Youtube-Video der Band. Auch andere Kinderliedermacher kommen bei Menschen, die längst volljährig sind, überraschend gut weg: "Beste Band!!! Jeden Morgen stehen wir auf und unser Kind fordert Muckemacher. Ihr rettet uns!", schreibt ein Vater unter das Video der gleichnamigen Berliner Band. "Einfach großartig, für Klein und Groß", ist unter dem Video des Sprechgesang-Songs "Immer muss ich alles sollen" von Gisbert zu Knyphausen zu lesen. Erschienen ist der auf dem ersten "Unter meinem Bett"-Album, einer Reihe, die seit 2015 einmal jährlich im Oetinger-Verlag erscheint. Darauf: Lieder für Kinder, geschrieben und interpretiert von bekannten deutschen Liedermachern und Bands.

Was ist heute anders an Kindermusik?

Aber was ist das Besondere an dieser "Kindermusik", die irgendwie für Kinder ist, aber eigentlich auch für Erwachsene?

Zunächst: Kurze Nachfrage bei den Nachbarn, die zwei Kinder haben, acht und elf Jahre alt, alle eingefleischte Deine Freunde-Fans. Warum mögt ihr die? Die Tochter: "Die bringen es genauso rüber, wie es bei uns zu Hause ist." Die Mutter: "Die machen intelligente Texte, auf Augenhöhe mit den Kindern." Zum Beispiel solche:

Ich stell sie, so gut ich kann, ganz weit hinten an! / Mach später irgendwann / Hausaufgaben! / Ich lass die Zeit vergehen, bye-bye, auf Wiedersehn, / hab nachher ein Problem. / Hausaufgaben!

Und wie kommen die auf ihre Textideen? Anruf bei Florian Sump, einem der drei Bandmitglieder von Deine Freunde. Über seine Arbeit am ersten Album "Ausm Häuschen", erschienen 2012, sagt er: "Ich habe versucht, wieder Kontakt zu meinem eigenen kindlichen Ich herzustellen, und geschaut, wo ist das deckungsgleich mit den Kindern, mit denen ich heute zu tun habe." Sump arbeitete damals in einer Kindertagesstätte, inzwischen ist der 40-Jährige selbst zweifacher Vater. Es sei ihm ein Anliegen, Texte zu schreiben, in denen sich Kinder wiedererkennen, "sich weniger alleine fühlen".

Dem Musiker Francesco Wilking, der seit der zweiten Platte die "Unter meinem Bett"-Alben kuratiert, ist vor allem wichtig, "dass man seine Fantasie oder das, was man sagen will, nicht runterschraubt auf so eine Art blödes Kinderniveau". Soll heißen: Keine Duzi-Dazi-Texte, kein "Kuh macht Muh" plus Alleinunterhaltermusik im Hintergrund. "Das ist die Krankheit der Kindermusik, wie man sie kennt." Stattdessen nimmt er auf die "Unter meinem Bett"-Alben lieber Lieder mit Texten wie dem von Larissa Pesch:

Ich versteck mich hinter Papa, werde rot und hoff, man sieht's nicht / und ich höre sie zu Papa sagen: Ach, die ist ja niedlich! / In mir brodelt es vulkanisch / ey, die kennen mich doch gar nicht / Und ich brülle fast schon panisch: / Ich bin nicht niedlich!!! / Ich bin nicht niedlich!!!

An dieser Stelle wäre zu fragen: Ist das wirklich neu? Oder hat es gute Kindermusik, gute Kindermusik-Texte, nicht auch schon vor 30 Jahren gegeben?

Vor der Eichenfurnier-Schrankwand hockt ein kleines Mädchen

Kleine Zeitreise: Ein Wohnzimmer in den späten Achtzigerjahren. Zwischen beigefarbenem Cordsessel, Süßwasser-Aquarium und Eichenfurnier-Schrankwand hockt ein kleines Mädchen vor einem Kassettenrekorder und lauscht.

Es waren einmal zwei Kinder, die hießen Ayşe und Jan. Sie waren Nachbarn und kannten sich nicht. So fängt die Geschichte an.

Obschon vor mehr als 30 Jahren gehört, hat sich der Text dieser Ballade um die Freundschaft eines türkischen Mädchens mit einem deutschen Jungen so ins Gedächtnis eingebrannt, dass das Mädchen von damals ihn auch heute noch auswendig kann. Der Autor Fredrik Vahle wurde bereits Anfang der Siebzigerjahre bekannt, als er zusammen mit Christiane Knauf die Kinderlieder-Platte "Die Rübe" herausbrachte. Darauf Lieder vom Glück und Unglück des Kindseins. In den späteren Siebziger- und Achtzigerjahren folgten weitere Alben mit teils sozialkritischen und politischen Kinderliedern - gegen Autoritätsgläubigkeit, gegen Fremdenhass, gegen Krieg, gegen soziale Ausgrenzung.

Ungefähr zur gleichen Zeit veröffentlichte auch Rolf Zuckowski sein erstes Album für Kinder. War die 1977 erschienene "Vogelhochzeit" noch ein Album mit eher klassischen Kinderliedern, folgte fünf Jahre später dann das Lied, das den Musiker bundesweit bekannt machte. Zuckowski präsentierte die umgetextete Coverversion des Titels "Ich mag" von Volker Lechtenbrink zusammen mit Kindern in der Sendung Wetten dass ..?:

Ich mag Lehrer / die mal fehlen / und mich nicht mit Mathe quälen / ich mag Papis mit viel Zeit / spielen ohne Streit / ich mag Cola und Pommfritz / Shakin' Stevens und seine Hits / ich mag fernsehn, wann ich will / und keiner sagt mir: Sitz mal still.

"Zuckowski wird zwar oft als Gegenbeispiel zu uns gebracht", sagt Florian Sump. Aber so einen großen Unterschied gibt es eigentlich gar nicht. "Er ist auch jemand, der in seinen Texten viel Feingefühl beweist und zu seiner Zeit progressiv war, weil er sich in die Köpfe von Kindern reinversetzt und sie ernst genommen hat."

Eine strenge Trennung ist gar nicht nötig

Zu diesem Ernstnehmen gehört auch, Kindern etwas zuzumuten. Sump sagt, dass sich seine Art zu texten im Laufe der Jahre verändert habe. Er habe festgestellt: Eine strenge Trennung in "Das ist für die Großen" und "Das ist für die Kleinen" sei gar nicht nötig. "Ich schreibe inzwischen auch öfter Texte aus Elternsicht, die aber keinesfalls von den Kindern abgelehnt werden. Das ist ein Irrtum zu denken, Kinder interessieren sich nur für das, was innerhalb ihres Kosmos stattfindet." Auch Wilking findet: "Es ist interessant, wenn in einem Kinderlied Details oder Elemente sind, die Kinder erst mal nicht verstehen, aber für die sie trotzdem ein Gefühl haben." Wenn Eltern und Kinder auf verschiedenen Ebenen angesprochen werden, ist das also schon mal ein ziemlicher Garant für den Erfolg.

Aber all das gilt natürlich nur, wenn auch die Verpackung stimmt, also die Musik selbst. Denn der Rhythmus ist nun mal das, was sofort in die Beine geht - bei Klein und Groß. Und hier liegt der wesentliche Unterschied zur Kindermusik von vor 30 Jahren. Heute darf das auch Ska sein, Heavy Metal oder Hip-Hop. Viele moderne Interpreten von Kindermusik haben früher Musik für Erwachsene gemacht und bereiten ihre Lieblingsgenres jetzt einfach für Kinder auf. "Wir machen auf den 'Unter meinem Bett'-Alben das, was wir immer machen - nur für ein anderes Publikum", sagt Francesco Wilking, der als Sänger und Gitarrist der Berliner Rockbands Tele und Höchste Eisenbahn bekannt wurde. Auch Florian Sump trommelte um die Jahrtausendwende als Schlagzeuger der Popgruppe Echt, sein Bandkollege Markus Pauli arbeitet als Tour-DJ für Fettes Brot. Deichkind-Frontmann Sebastian Dürre veröffentlichte im Lockdown ebenfalls eine neue Platte - erstmals für Kinder: "Achtung Kokosnuss!" heißt das erste Album seiner Zuckerblitz-Band.

Aber natürlich gibt es sie auch heute noch, die Totalschäden deutscher Kindermusik. Holt man das Kind vom Hort ab, tönt es durch den Flur: Seht ihr den Rauch / tatütatata / holt schnell den Schlauch / tatütatata. Dazu wummern die Pop-Beats einer Musik-Software. Wilking kommentiert das so: "Manche Dinge funktionieren bei Kindern, deshalb muss man sie ja nicht unbedingt machen." Andererseits: Vielleicht muss ja nicht jede Kindermusik unbedingt auch den Eltern gefallen.

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