Kindererziehung:Und alle reden mit

Vater und Kind

Eltern finden es anstrengend, wenn jeder glaubt, ihre Kinder ungefragt miterziehen zu dürfen.

(Foto: dpa)

Kein Zoologe würde sich anmaßen, einem Informatiker Tipps zum Thema Computer zu geben. Eltern aber müssen aushalten, dass sich Großeltern, Freunde und Wildfremde in die Kindererziehung einmischen. Das nervt. Zu Recht?

Von Michael Neudecker

Es ist schon viel geforscht und geschrieben worden, inwiefern sich der Mensch vom Affen unterscheidet, hervorgehoben sei nun die Sache mit den Weißbüscheläffchen. Der niederländische Zoologe und Anthropologe Carel van Schaik hat sich bei seinen Untersuchungen vor Jahren mit ihnen, nun ja, angefreundet; nicht, weil sie so lustig aussehen, klein, ein geradezu katzenhafter Körper, affentypisches Gesicht und Don-King-Frisur mit wegstehenden weißhaarigen Büscheln. Sondern weil er etwas herausfand, das ihn begeisterte: Weißbüscheläffchen ziehen ihren Nachwuchs in der Gruppe auf. Lange Zeit war man davon ausgegangen, dass der Mensch der einzige Primat ist, der die Erziehung des Kindes nicht als alleinige Aufgabe der Mutter betrachtet. Inzwischen weiß man, dass jeder Mensch auch ein kleines bisschen Weißbüschelaffe ist.

Warum Mensch und Weißbüschelaffe irgendwann anfingen, Erziehung als Gemeinschaftsaufgabe zu begreifen, ist umstritten, aber klar ist, dass dieser Schritt wichtig war: Die Kooperationsbereitschaft hat zum Überleben und zur Weiterentwicklung des Menschen beigetragen. Die ausgedehnte Kooperation in der Erziehung war jahrhundertelang selbstverständlich, eine Zeit lang war es sogar total in, die Erziehung auszulagern: Wer etwas auf sich hielt und Geld hatte, erzog noch im 19. Jahrhundert nicht selbst, sondern ließ erziehen. Heute ist das nicht mehr ganz so, aber so ähnlich.

Es gibt Kitas und Kindergärten, die ihre Öffnungszeiten mehr an den Arbeitszeiten der Eltern orientieren als an den Bedürfnissen der Kinder. Wer arbeiten muss, um sich das Großstadtleben leisten zu können, und wer arbeiten will, um seinen Alltag nicht auf die Kinder zu beschränken, bucht auch mal 40 Betreuungsstunden in der Woche; die zumindest zeitweise Fremderziehung gehört da zum Familienkonzept. Ein wirklich schönes Wort aber ist Fremderziehung auch nicht, es ist so ein Wort, das bei einigen Eltern zu wütendem Herzrasen führt, wenn sie es in den Mund nehmen, denn es ist ja so: Selten haben die Eltern ihre alleinige Hoheit über ihre Kinder und darüber, welche individuellen Werte sie ihnen vermitteln, als derart unverhandelbar betrachtet wie heutzutage. Wer die Hoheit missachtet, wird verachtet, das kann sogar langjährige Freundschaften in arge Schwierigkeiten bringen.

Ende der Kooperationsbereitschaft

Kann schon sein, dass die Kooperationsbereitschaft evolutionsbiologisch dem Menschen im Blut liegt, aber wenn beim Kinderturnen ein nicht Erziehungsberechtigter meint, dem Kind in der Schlange am Sprungkasten sagen zu müssen, es habe sich vorgedrängelt, dann hat es sich schnell auskooperiert.

Warum nur?

Warum stört es viele so sehr, wenn andere sich zur Erziehung ihrer Kinder äußern, sich sozusagen einmischen, und sei es nur in banalen Situationen?

Spricht man mit Familientherapeuten und Familiensoziologen, kommt man auf verschiedene Erklärungsansätze. Da wäre zum Beispiel der Begriff des Projektkindes: Vor nicht allzu langer Zeit mussten sich vor allem Mütter noch entscheiden zwischen Beruf oder Kind, heute ist die Entscheidung oft Beruf und Kind, und Erfolg in beidem ist von großer Bedeutung für den Erfolg des gesamten Lebensentwurfes. Eltern betrachten ihr Kind dann unterbewusst als eine Art persönliches Projekt, das unbedingt gelingen muss. Das Projekt wird mit einer Zielvorgabe versehen, die aus den Ambitionen der Eltern heraus definiert wird, es wird ausschließlich von den beiden Projektbeauftragten, den Eltern, betreut. Und die richten ihren ganzen Fokus so sehr darauf, dass es ihnen schwerfällt, Anregungen von Menschen anzunehmen, die mit dem Projekt nicht unmittelbar zu tun haben und in ihren Augen daher nicht kompetent sind. Also: von allen anderen Menschen.

Zum anderen kann das bockige Beharren der Eltern darauf, dass sie und nur sie alleine befugt sind, dem Kind seine Grenzen aufzuzeigen, auch aus einer gewissen Unsicherheit entstehen. "Es ist vielen Menschen heutzutage nicht mehr so klar, welche Normen und Werte für die Erziehung wichtig sind", sagt die erfahrene Münchner Familientherapeutin und Kinderpsychiaterin Viktoria Tscherne. Es gibt Ratgeber für alles: Wie werde ich schwanger? Wie verhalte ich mich auf dem Spielplatz? Wie essen wir als Familie richtig? Wie lebe ich richtig? Wie sterbe ich richtig? "Da kann es schnell passieren, dass Eltern verunsichert sind", sagt Tscherne, "sie entwickeln dann das Gefühl: Ich kann mich nur auf mich selbst verlassen."

Amerikaner stellen sich öfter die Gewissensfrage

Kindererziehung: Eltern finden es anstrengend, wenn jeder glaubt, ihre Kinder miterziehen zu dürfen. Dabei kann ein Rat von außen mal ganz gut tun. Illustration: Anton Hallmann

Eltern finden es anstrengend, wenn jeder glaubt, ihre Kinder miterziehen zu dürfen. Dabei kann ein Rat von außen mal ganz gut tun. Illustration: Anton Hallmann

Noch vor gut fünfzig Jahren war das anders, damals, 1966, schrieb die Frau eines Bonner Korrespondenten der New York Times in einem Artikel über die Unterschiede deutscher und amerikanischer Kindererziehung: "Wenn deutsche Eltern um etwas bitten, erwarten sie, dass gehorcht wird. Sie sind hundertprozentig ihrer selbst sicher, anders als amerikanische Eltern, die sich oft gegenseitig die Gewissensfrage stellen, ob sie 'das Richtige tun'." Das, fand die Autorin, führte dazu, dass "deutsche Kinder folgsam sind (wenn nicht sogar gefügig), hilfsbereit, brav, gute Esser und ohne Klage bei langen Spaziergängen", amerikanische Kinder dagegen wirkten "laut, undiszipliniert, sprunghaft und faul". Ihr Fazit, das zugleich eine Pointe ist: "Amerikanische Kinder sind natürlicher, aufrichtiger und freier als ihre deutschen Altersgenossen."

Heute sind deutsche Kinder eher nicht mehr gefügig, zum Glück, die Freiheit auch und gerade des kindlichen Individuums ist hierzulande längst mehr als eine Modeerscheinung. Haben wir uns also auch in Sachen Erziehung amerikanisieren lassen? Sind wir wahlweise unsichere oder überehrgeizige Eltern? So einfach ist es natürlich nicht. Und natürlich gibt es genügend Situationen, in denen das Miterziehen anderer unangebracht ist, ja: nervt. Wenn sich das Kind am U-Bahn-Steig lauthals dagegen sträubt, in den Buggy einzusteigen, es aber einfach einsteigen muss, weil es müde ist und Mutter und Kind schleunigst zu einem Termin müssen, ist es für die Mutter nicht hilfreich, wenn sich der freundliche Herr nebenan zum Kind beugt und sagt: Na, möchtest du wohl nicht in den Wagen, hm? Vielleicht hat deine Mama ja ein Einsehen, hm?

"Eltern wissen selbst am besten, wann es geboten ist, sich gegenüber anderen zurückzuhalten", sagt die Oldenburger Familiensoziologin und Universitätsprofessorin Corinna Onnen. Vieles ist außerdem eine Frage des Tonfalls und der Wortwahl. Dass aber auch sinnvolle Hinweise im Bekanntenkreis oft als unerhörtes Einmischen empfunden werden, liege auch an der generellen Wandlung des Familienbegriffs in den vergangenen Jahrzehnten, sagt Onnen: "In der Nachkriegszeit gab es viel lockerer gefasste Familienverbünde als heute". Die heutige Familie niste sich bildlich betrachtet im kleinen Kreis in der eigenen Wohnung ein, es gibt in der Tür zwar den Spion für den Blick nach draußen, der Blick nach innen aber wird verwehrt. "Wir haben ein Tabu aufgebaut: Man mischt sich nicht ein", sagt Onnen. Über Erziehungsstile wird trotz voller Ratgeberregale sowieso kaum offen diskutiert.

Feedback schadet selten

Skurril ist das schon: Kein Zoologe würde sich im Gespräch mit einem Informatiker anmaßen, ihm Tipps zum Thema Computer zu geben - wenn es um die Kinder des Informatikers geht, aber schon. Kinder sind ein Fachgebiet, in dem sich Eltern spätestens mit dem Tag der Geburt als kompetent betrachten. Das mag, um es in der Ratgebersprache zu sagen, einerseits richtig sein, ja sogar notwendig, weil das Vertrauen der Eltern in die eigene Intuition ein wichtiger Bestandteil der Erziehung ist. Ein Kind ist halt doch kein Projekt, für das man vor allem erlerntes Wissen braucht. Aber: Feedback schadet selten. Wem immerzu gleichgültig ist, was andere denken und tun, der kriegt kein Gefühl dafür, ob das alles so gut ist mit der eigenen Intuition.

In Afrika gibt es noch immer Völker, in denen die Erziehung ganz uneitel als Aufgabe der Gemeinschaft betrachtet wird. Manche Stämme des überwiegend in Botswana und Namibia ansässigen Volkes der San zum Beispiel leben ohne den Mutter- oder Vaterbegriff, wie wir ihn kennen. Ein Kind wird außerhalb der Siedlung geboren und danach von der gesamten Gemeinschaft aufgenommen, gelebt und erzogen wird in völliger Solidarität. Die amerikanische Verhaltensforscherin Sarah Blaffer Hrdy hat das San-Volk beobachtet, in einem ihrer vielen Interviews hat sie berichtet, wie warmherzig die ganze Sippe mit den Kindern umgeht.

Idealfall für ein Kind: zwei Bezugspersonen

Klar, in der westlichen Gesellschaft wäre ein derartiges Erziehen in der großen Gruppe kaum denkbar, und es ist auch nicht so, dass wir Deutsche allesamt Erziehungs-Hyperventilierer sind; für Kinder kann es gut sein, die eigenen Eltern als unumstrittene Autorität zu betrachten. Es gebe zwar Ausnahmen, in denen auch die Erziehung durch viele Menschen funktionieren könne, sagt Familientherapeutin Tscherne, "der Idealfall aber ist, dass ein Kind zwei feste Bezugspersonen hat, die immer präsent sind und eine verlässliche Bindung vermitteln." In den Sechzigern und Siebzigern habe es bekanntermaßen Kommunenversuche gegeben, sagt Tscherne, "aber die sind alle gescheitert."

Nein, es muss nicht gleich die ganze Sippe miterziehen, wirklich nicht. Aber manchmal hilft es, sich locker zu machen. Manchmal kann das Kind mit dem Input von außen mehr anfangen als mit dem der Eltern. Weil es dann viel besser verinnerlichen kann: Vordrängeln am Sprungkasten ist doof.

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