"Ich zähle jetzt bis drei!" Plötzlich taucht er auf, dieser Satz, den man sich geschworen hatte, nie zu sagen. Ein Satz mit einer lächerlichen Dramatik. Eins, zwei, drei. Und jetzt? Man will doch wissen, wie es weitergeht.
Doch nun, selbst Mutter oder Vater, sagen Eltern, die sich als Kind immer gefragt haben, was nach der Drei passieren wird, diesen magischen Satz: "Ich zähle jetzt bis drei. Eins, zwei, drei . . ." Und wissen auch nicht, was sie machen werden, wenn ihr Kind nicht hört. Sie verheddern sich also in den Erziehungsfloskeln, für die sie die eigenen Eltern früher ausgelacht haben.
Du große Güte, werden wir alle am Ende doch wie unsere Eltern?
Diese Ähnlichkeit fühlt sich für viele wie eine Niederlage an. Wir sehen unsere Individualität infrage gestellt und sind frustriert, weil wir, so weiß es der Volksmund, dem Schatten, den der Baum auf den Apfel am Boden wirft, nicht entkommen können. Bei den Floskeln bleibt es nicht: Noch mehr ärgern wir uns, wenn andere uns unterstellen, eine Kopie made in Elternhaus zu sein. Du bist wie deine Mutter! Doch warum nervt uns das eigentlich so? Und wie kann es überhaupt dazu kommen?
"Der Du-bist-wie-Satz fällt nie im Zusammenhang mit einer positiven Handlung, sondern nur, wenn jemand mit uns unzufrieden ist", erklärt Silvia Dirnberger-Puchner. Die Psychotherapeutin aus Enns bei Linz beschäftigt sich seit Jahren mit Familien und ihren Strukturen. "Es ist ein Ausdruck von Hilflosigkeit, mit dem der Absender den Umweg über die Eltern nimmt." Dabei verstärke gerade der Schlenker die Botschaft, die uns zuteilwerden sollte. Denn in vielen Dingen werden wir tatsächlich wie unsere Eltern, sagt die Therapeutin.
"Ganz die Mama"
Zwar muss niemand befürchten, nur eine Blaupause zu sein. Doch die Herkunftsfamilie hat Macht über uns, eine sichtbare und eine unsichtbare, da sind sich Experten einig. Es ist das unbewusste Abgucken und Nachahmen von Verhaltensmustern, Gesten, Ritualen von klein auf, das der Familie diese Macht verleiht.
"Ganz die Mama": Was nach der Geburt noch verzückt, wird spätestens in der Pubertät zur Bedrohung. Auch wenn das Kind versucht, sich von der Familie abzugrenzen, hat sich diese Prägung im Gedächtnis verankert. Sie beeinflusst, wie wir über uns selbst und andere denken, was Glück für uns bedeutet, und ob wir glauben, dass wir dieses Glück auch verdient haben.
Silvia Dirnberger-Puchner ist davon überzeugt, dass die meisten Verhaltensmuster, die sich durch unser Leben ziehen, durch Erwartungserwartungen geprägt sind, also den Erwartungen, die sich auf die des Gegenübers beziehen. "Kinder verhalten sich oft so, wie sie glauben, es könnte den Eltern gefallen", sagt sie. Verzichtet jemand auf die eigene Zufriedenheit zugunsten eines anderen und sagt häufig Ja, obwohl er lieber Nein sagen würde, liege das vermutlich daran, dass er als Kind meinte, gelernt zu haben, dass er Zuwendung nur bekommt, wenn er auch funktioniert.
Diese Muster setzen sich durch ihre permanente Wiederholung fest. "Das führt im Gehirn zu neuronal-physiologischen Veränderungen", erklärt Silvia Dirnberger-Puchner. "Gedanken, die wir immer wieder fassen, hinterlassen an dieser Stelle verdickte Synapsenstränge. Kommen wir in Stresssituationen, reagiert diese Stelle durch ihre Ausformung schneller als andere, und so wiederholen wir uns ständig in diesem gelernten Verhalten."
Wer dem anderen Elternteil ein saloppes "Das hat er bestimmt von dir" an den Kopf wirft, ist eigentlich unzufrieden mit dem Kind, versucht aber, die Last auf den anderen abzuwälzen. Dabei ist nicht klar zu sagen, wer mehr prägt: Vater oder Mutter. "Man weiß noch nicht mal, ob derjenige, der im Leben des Kindes immer präsent ist und sich kümmert, mehr prägt als einer, der sich kaum blicken lässt", sagt die Expertin. Auch hier könnte das Kind, in der Hoffnung Beachtung zu finden, sich so verhalten, wie es glaubt, dem Abwesenden zu gefallen.
Wenn Kinder ihren Eltern ähneln, kann es - zumindest das Optische betreffend - auch praktische Gründe haben. Studien zeigten, dass Einjährige ihrem Vater ähnlicher sehen als ihrer Mutter. Die Forscher gehen davon aus, dass die temporäre Gleichartigkeit ein Trick der Evolution sein könnte, um Männer von ihrer Vaterschaft zu überzeugen. Er soll sehen, dass es sich lohnt, für das Kind zu sorgen. Die Regel ist platt: die gleiche Nase = kein Kuckuckskind.
So steht nur fest, dass alles, was in einer Familie passiert und gelebt wird, Auswirkungen auf alle Mitglieder hat, im Übrigen auch auf Adoptiv- und Stiefkinder. Welche? Und in welchem Ausmaß? Das ist nicht vorauszusehen oder steuerbar. Ebenso wenig, ob sich Eigenschaften der Eltern auch in Geschwistern zeigen. Schließlich hat jedes Kind in der Familie seine Rolle, die ungeschriebene Gesetze mit sich bringt.
Wird etwa eine Mutter von drei Kindern schwer krank, könnte das Erstgeborene beginnen, seine Bedürfnisse zurückzustellen, um die Mutter nicht zu belasten, und versuchen, die Versorgungslast der Geschwister mit ihr zu teilen. Während dieses Kind lernt, zu funktionieren und eine Sensibilität entwickelt, was jemand in einem sozialen System braucht, haben die Jüngeren womöglich ganz andere Wertvorstellungen - obwohl sie im gleichen familiären Umfeld zur gleichen Zeit groß geworden sind.
Umgang mit Geld hängt oft von Eltern ab
Zu den häufigsten Mustern der "Transmission", wie die Weitergabe von Einstellungen und Verhaltensweisen von Eltern an ihre Kinder genannt wird, zählt Silvia Dirnberger-Puchner den Umgang mit Geld, Gefühlen und Ordnung. "Es vergeht kaum ein Tag, an dem wir nicht mit diesen Themen konfrontiert werden: Gönnen wir uns etwas oder halten wir das Geld panisch zusammen? Lassen wir Ärger freien Lauf oder verbergen wir ihn? Und wie sehr haben wir verinnerlicht, dass der Arbeit das Vergnügen folgt?"
Die vielen Altlasten können auch dramatische Folgen haben: Langzeitstudien haben gezeigt, dass Töchter von Teenagermüttern häufiger selbst jung Mutter wurden, und Scheidungskinder sich zu Beginn ihrer Ehe doppelt so oft wieder scheiden ließen wie Kinder, deren Eltern zusammenblieben. Die Wahrscheinlichkeit mit alkoholabhängigen Eltern selbst in eine Abhängigkeit zu geraten, liegt dreimal höher als mit nicht abhängigen Eltern.
Natürlich spielen neben sozialen Ursachen und Umwelteinflüssen wie dem Kulturkreis auch die Gene eine Rolle. "Eine Veranlagung zu bestimmten Verhaltensmerkmalen wie Aggressivität kann in unseren Genen festgelegt sein, aber ob sich das auch in der Persönlichkeit ausdrückt, kommt auf den Anteil der Erblichkeit an sowie auf die Umwelteinflüsse.
Und auch dann heißt das noch lange nicht, dass dieser Mensch sich je aggressiv verhält", erklärt Bernhard Horsthemke vom Institut für Humangenetik am Universitätsklinikum Essen. Während die Körpergröße eine Erblichkeit von fast 100 Prozent habe, liege die der Aggressivität bei circa 40 Prozent.
Durch die Erkenntnisse der Epigenetik weiß man heute zudem, dass sich Umwelteinflüsse auf das Genom niederschlagen und es langfristig beeinflussen können, und damit Narben im Erbgut hinterlassen. "Wenn werdende Mütter sehr großem Stress ausgesetzt sind, kann auch das Baby im Mutterleib etwas davon abbekommen", so Horsthemke. "Das kann so weit gehen, dass sogar die Eizellen im Embryo bereits davon beeinflusst werden."
Silvia Dirnberger-Puchner wurde in ihrer Kindheit häufig geschlagen. Würde ihr heute jemand sagen, sie wäre in ihrer Rolle als Mutter wie ihre Mutter, wäre sie stocksauer: "Denn ich habe keines meiner vier Kinder je geschlagen." Verhaltensweisen, die uns geprägt haben, kann man nicht einfach löschen. Es dauert mitunter Jahre, alte Pfade zu verlassen. Silvia Dirnberger-Puchner hat Frieden mit ihren Eltern geschlossen, für sie ist entscheidend, wie man die Vergangenheit sieht: "Hadere ich oder finde ich: Wo viel Schatten ist, muss auch viel Licht sein?"
Vielleicht sollte man es sicherheitshalber mit dem Ratschlag des Autors Paul Watzlawick halten: In der Wahl seiner Eltern kann man nicht vorsichtig genug sein.