Kindererziehung:Die alles richtig machen wollen

Familie beim Essen, 1959

Die vermeintlich heile Familienwelt der 1950er-Jahre suchte Halt im Altbewährten - in der Erziehung hieß das: streng, autoritär, mit wenig Empathie.

(Foto: Max Scheler/SZ Photo)
  • Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat in einer Studie untersucht, wie sich der Erziehungsstil in Deutschland seit der Zeit des Nationalsozialismus verändert hat.
  • Dabei zeigt sich, dass sich die Demokratisierung der Gesellschaft und die Demokratisierung der Erziehungsstile wechselseitig bedingen.
  • Für Verunsicherung sorgen bei Eltern heute die von allen Seiten gestiegenen Erwartungen.

Von Ulrike Heidenreich

Das Große beginnt im Kleinen, und umgekehrt. Wie demokratisch eine Gesellschaft ist, entwickelt sich aus dem innersten Kern, der Familie. Dieser Kern jedoch hat sich im Laufe der Zeit gewaltig entwickelt und verändert - vor allem, was die Struktur und die Erziehungsweise der Kinder betrifft. Wie stark, hat die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) untersuchen lassen. Das positive Ergebnis der Analyse: Der "Befehlshaushalt" als Familienmodell hat endgültig zugunsten des "Verhandlungshaushaltes" abgedankt. Die neue Lässigkeit berge jedoch auch Gefahren, warnen die Forscher: Die große Kluft zwischen neuen Leitbildern der Ratgeberliteratur und dem realen Leben bringt das Familiensystem in Schieflage.

Vor allem bei engagierten Eltern der Mittelschicht, die beide berufstätig sind, mit ihren Kindern alles richtig machen wollen und sich Rat in Vorträgen, Elternkursen oder psychologischen Praxen suchen, beobachtet Familientherapeutin Carmen Eschner heftige Verunsicherung: "Wer im Arbeitsprozess steht und gewohnt ist, auf Effizienz, Transparenz und termingerechte Prozessabwicklung zu achten, der betrachtet angespannt die eher individuelle, langsam fortschreitende Entwicklung seines Kindes", sagt sie. "Bei ineffektiven Erziehungsversuchen werden diese Eltern an sich zweifeln." Im Auftrag der KAS hat die Wissenschaftlerin viel gelesen und verglichen - nämlich Erziehungsratgeber, die seit der Zeit des Nationalsozialismus bis heute auf den Markt gekommen sind.

Es waren vergnügliche, aber auch bedrückende Lesestunden

Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass es allein auf dem deutschen Büchermarkt aktuell etwa 10 000 Eltern- und Erziehungsratgeber gibt. "Sie nehmen sich mit unterschiedlichen Erziehungsphilosophien und Ratschlägen der zunehmenden Verunsicherung vieler Eltern an", sagt Eschner. Es waren vergnügliche, aber auch bedrückende Lesestunden für sie. Traurig, wenn man zum Beispiel den Bestseller von Johanna Haarer liest, einer nationalsozialistischen Ärztin und mehrfachen Mutter. Ihr Ratgeber "Die Mutter und ihr erstes Kind" hatte sich lange über die Nachkriegszeit gehalten. Mit Thesen wie: Zu viel Blick- und Körperkontakt verweichlicht und macht das Kind zum Haustyrannen. Schreien dient weniger der Gefühlsäußerung als vielmehr der Kräftigung der Lungen. Oder: Das Verhalten eines Kindes zielt hauptsächlich darauf ab, Macht zu gewinnen.

Im Gegensatz dazu wirken die Schriften aus den 1960er-Jahren wie heiterste Lektüre. In den Abhandlungen aus der Zeit der antiautoritären Kinderläden und Freien Schulen wurden Erziehungsziele wie Gehorsam und Unterordnung, preußische Tugenden wie Pflichtbewusstsein und Selbstdisziplin durchweg als übelste Unterdrückungswerkzeuge gegeißelt.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung versteht sich als Thinktank, der wissenschaftliche Grundlagen und Analysen als Hilfestellungen für das Handeln in der Politik liefern will. Christine Henry-Huthmacher, die in der KAS die Familienpolitik koordiniert, sagt, die Analyse "Welche Erziehung ist richtig?" zeige, dass Deutschland beim Umgang mit dem Nachwuchs viel geleistet habe: "Die Demokratisierung der Gesellschaft und die Demokratisierung der Erziehungsstile bedingen sich wechselseitig." Besonders plastisch und greifbar werde dies in den Erziehungsratgebern, die in ihren Empfehlungen auch immer Ausdruck ihrer Zeit seien.

So konnte von einem Wandel des Erziehungsstils in der Nachkriegszeit kaum gesprochen werden: Der wirtschaftliche Überlebenskampf, die Ideologieverdrossenheit und die prekäre soziale Situation der Frauen ermöglichten keinen Raum für Experimente. "Altbewährtes garantierte Sicherheit", sagt Forscherin Eschner. Erschwerend habe sich die Lücke ausgewirkt, die der Nationalsozialismus durch Bücherverbrennungen, die Einstellung von Neuauflagen und die Vertreibung fast aller Psychoanalytiker hinterlassen habe.

Eltern verheddern sich in alten Leit- und Rollenbildern

Mitte der 1950er-Jahre befürwortete über die Hälfte der Deutschen in Umfragen die körperliche Bestrafung von Kindern und sprach sich für eine autoritäre Erziehung aus. Eine Befragung unter Jugendlichen aus dem Jahr 1957 wiederum zeigt starke Spannungen zwischen den Generationen: Die Jugendlichen klagen über strenge, repressive Erziehungsstile zu Hause, fehlende Empathie und hohen Leistungsanspruch der Eltern.

"Beziehung statt Erziehung" - diese Maxime hat Eschner in der Ratgeberliteratur der 1980er-Jahre ausgemacht: "Die Werte Gehorsam und Unterordnung nehmen kontinuierlich ab, Ordnungsliebe und Fleiß bleiben nahezu konstant." Seit den 1990er- Jahren steigen die Erwartungen in den Ratgebern, die KAS macht deswegen eine schleichende Überforderung vor allem bei Kleinfamilien und Alleinerziehenden aus: "Von Eltern wird heutzutage nicht nur psychologische, sondern auch eine umfassende Erziehungskompetenz erwartet", heißt es in der Analyse. Trotz des Ausbaus von Kindertagesstätten reiche vielen Familien der Mittel- und Unterschicht die Betreuung in Kita und Schule darum nicht aus. Dies betrifft nicht nur das zeitliche Ausmaß, sondern auch die Qualität.

Zusätzlich verhedderten sich Eltern in alten Leit- und Rollenbildern: "Einerseits wird eine intensive Bemutterung erwartet, andererseits aber eine Erziehungsstil auf Augenhöhe", sagt Eschner. Von allen Seiten steigen die Erwartungen - auch was die Kompetenz auf ganz neuen Feldern betrifft: der Gesundheit, der Ernährung und den Medien. Das richtige Impfen, das Bekämpfen von Allergien, die Auswahl von Bioprodukten und die Nutzung von Smartphones - Eltern, die hier alles wissen und richtig machen wollen, können schnell mal verzweifeln.

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