Kinderarmut in Deutschland:Der Leidensweg ist vorbestimmt

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Die unterschätzte Seite der Armut: Chronische Krankheiten treffen Kinder aus sozial schwachen Familien besonders hart, weil sie oft kaum Unterstützung finden.

E. Schäffner und E. Landmann

Marcel ist Patient einer Kinderklinik in Hessen. Er ist acht Jahre alt und leidet an Diabetes. Das bedeutet, dass er zweimal am Tag Insulin spritzt und Mahlzeiten mit festgelegtem Kohlenhydratanteil zu sich nimmt, damit sein Blutzuckerwert normal bleibt. Marcel muss außerdem mehrmals täglich prüfen, ob sein Blutzucker im angestrebten Bereich liegt.

Es ist schlimm, wenn kranke Kinder keine Unterstützung von den Eltern bekommen. (Foto: Foto: iStock)

Er piekst sich dazu in den Finger und misst im Blutstropfen mit einem kleinen Gerät den Blutzucker. Das Ergebnis erfordert mitunter, dass sofort reagiert wird - bei zu niedrigen Werten muss Marcel mehr Kohlenhydrate zu sich nehmen, bei zu hohen Werten muss er mehr Insulin spritzen. Der Achtjährige führt die Blutzuckerkontrollen und Insulingaben meist selbständig durch und weiß auch recht gut Bescheid, was bei Blutzuckerschwankungen zu tun ist.

Dennoch zeigen Marcels Blutwerte immer wieder, dass sein Diabetes schlecht eingestellt ist und er oft viel zu hohe Blutzuckerwerte hat. Während zu niedrige Blutzuckerwerte akut bedrohlich sind und zu Krampfanfällen und Koma führen können, erhöhen zu hohe Werte langfristig das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall, Nierenversagen, Augenschäden, bis hin zu Blindheit und Gefäßerkrankungen, die bis zur Amputation von Gliedmaßen führen können. Folgeerkrankungen, die schon im jungen Erwachsenenalter zur Invalidität führen können. Bei guter Blutzuckereinstellung hingegen treten diese Komplikationen seltener oder erst viel später auf.

Marcel fehlt die notwendige Unterstützung. Obwohl der Mutter die drohenden Komplikationen mehrfach eindrücklich erklärt wurden, erscheint Marcel zu ambulanten Terminen unregelmäßig, oft allein. Sein Diabetes-Tagebuch, in das alle Blutzuckerwerte eingetragen werden müssen, hat er bei Ambulanzterminen oft nicht dabei. Mehrfach ist es verloren gegangen.

Die unregelmäßig protokollierten Blutzuckerwerte liegen oft über 300 Milligramm pro Deziliter - eigentlich sollten sie nicht über 160 liegen. Mitunter sind gefährlich niedrige Werte dokumentiert. Warum, so wird die Mutter gefragt, nur so selten Werte aufgeschrieben wurden? Schulterzucken. Sie habe eben "auch nicht immer Lust, da hinterher zu sein". Seit zwei Tagen hätten sie im Übrigen keine Nadeln für die Blutzuckermessung mehr zu Hause, das Rezept dafür habe sie auch nicht finden können.

Wiederholt angebotene und dringend angeratene Patienten- und Elternschulungen nimmt die Mutter nicht wahr. Marcel muss mehrmals im Jahr stationär aufgenommen werden, da die Blutzuckereinstellung zu schlecht ist. Von seiner Mutter bekommt er dann selten und nur kurz Besuch. Wenn sie da ist, sehen sie gemeinsam fern. Der Vater hat keinen Kontakt mehr zur Familie. Als Begründung für die seltenen Besuche gibt die Mutter an, kein Geld für Benzin, keine Betreuung für Marcels Geschwister und sowieso "genug um die Ohren" zu haben.

Ein anderer Patient, diesmal am Virchow Klinikum der Charité, Berlin. Herr F. ist 38 Jahre alt und seit einem Jahr an der Dialyse, weil seine Nieren nicht mehr arbeiten. Nun möchte er nierentransplantiert werden. Sein Leidensdruck ist groß. Dreimal in der Woche ist er für je vier bis fünf Stunden an ein Dialysegerät angeschlossen. Meist fühlt er sich danach kraftlos. Die Abhängigkeit von der Maschine, ohne die er nicht leben könnte, stellt für ihn eine große Belastung dar.

"Zu viel vorgefallen"

Seit seiner Kindheit leidet Herr F. an insulinpflichtigem Diabetes mellitus. Diese frühe Form der Zuckerkrankheit ist auch Ursache seiner Nierenerkrankung. Der Zucker hat die Netzhaut seiner Augen geschädigt und seine Blutgefäße in Mitleidenschaft gezogen - zwei Zehen des rechten Fußes mussten amputiert werden. Wie denn seine häusliche Situation sei? Er lebe allein, seine Frau habe sich letztes Jahr von ihm getrennt. "Als das mit der Dialyse losging, meinte sie, so einen könne sie nicht brauchen", sagt er.

Zu den Eltern, die während seiner Kindheit geschieden wurden, bestehe kein Kontakt, da sei "zu viel vorgefallen". Er hat einen zehnjährigen Sohn, den er das letzte Mal vor acht Monaten gesehen hat. Berufstätig ist er krankheitsbedingt nie gewesen. Was er tagsüber mache? Nicht viel. Hauptsächlich Fernsehen, schlafen und essen. Manchmal einkaufen. An drei Tagen der Woche habe er vormittags Dialyse, und nachmittags sei er so müde, dass er erst mal schlafen würde. Freunde hat er keine. An allem sei "der Zucker schuld".

Die Krankengeschichten von Marcel und Herrn F. lassen sich zu einem Lebensweg verknüpfen. Marcels Fall veranschaulicht, womit Kinderärzte zunehmend konfrontiert werden: Mit der Hilflosigkeit und Unfähigkeit vieler Eltern, für ihre kranken Kinder angemessen zu sorgen. Die Krankengeschichte von Herrn F. steht exemplarisch für die physischen und sozialen Folgen, die Marcel nach 30 Jahren unzureichend behandelter chronischer Krankheit zu befürchten hat. Neben Depression bei kompletter Perspektivlosigkeit drohen ihm Blindheit, Invalidität und eine verkürzte Lebenserwartung. Leider sind diese Patienten für viele Ärzte Alltag geworden.

Keine ausreichende Unterstützung in der Familie

Mit einer Krankheit geboren zu werden oder während der Kindheit chronisch zu erkranken, ist schlimm genug. Noch schlimmer ist es, wenn Möglichkeiten zur Prävention und Therapie, obwohl vorhanden und von Ärzten immer wieder angeboten, nicht oder nur unbefriedigend genutzt werden - wenn eine angemessene Betreuung und Begleitung kranker Kinder und Jugendlicher in der Familie schlicht nicht stattfindet.

Immer mehr Kinder erfahren keine ausreichende Unterstützung in ihrer Familie. Dies ist vor allem bei Kindern aus sozial schlechter gestellten Bevölkerungsgruppen zu beobachten. Diabetes ist ein typisches Beispiel für viele chronische Erkrankungen, deren Prognose wesentlich von der Kooperation der Betroffenen abhängt.

Chronische Erkrankungen können zwar nicht geheilt werden, bei guter Kooperation aber kann verhindert oder lange hinausgezögert werden, dass die Krankheit fortschreitet und Folgeleiden auftreten. Kinder aus sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen haben hier das Nachsehen, sie weisen viel ungünstigere Krankheitsverläufe auf.

In Deutschland sind Kinder aus sozial schwächeren Familien kränker als Kinder aus Familien mit höherem sozioökonomischem Status. Der Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2005 zufolge weisen Kinder aus sozial schwächeren Familien bereits vor der Einschulung deutlich häufiger Gesundheits- und Entwicklungsstörungen auf und sind häufiger von Unfallverletzungen betroffen. Erschreckend sind auch die ersten Ergebnisse des bundesweit repräsentativen Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS), einer 2003 bis 2006 erhobenen Studie des Robert-Koch-Instituts. Störungen der psychischen Gesundheit und Hinweise auf Essstörungen finden sich bei Kindern mit niedrigem sozialen Status doppelt so oft wie bei sozial besser gestellten Kindern. Fettleibigkeit etwa wurde bei 14- bis 17-jährigen Kindern mit niedrigem sozialen Status etwa dreimal so häufig diagnostiziert wie bei Kindern mit hohem sozialen Status.

In Ländern der EU gilt ein Haushalt als arm, dem weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens zur Verfügung steht. Nach dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2005 leben in Deutschland mittlerweile 13,5 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.

Die Daten zur Kinderarmut sind noch bedrückender: In Deutschland leben 16,9 Prozent der Kinder in Armut, zeigt eine Erhebung von Unicef. Unter Kindern Alleinerziehender ist die Armutsrate mit 38 Prozent sogar mehr als doppelt so hoch. Kinderarmut steigt in Deutschland schneller als die Armutsrate im Durchschnitt der Bevölkerung. Auch der internationale Vergleich ist nicht rühmlich. Kinderarmut in Deutschland ist seit 1990 stärker gestiegen als in den meisten anderen Industrienationen.

Kein unabwendbares Schicksal

Dass sich Armut nicht auf geringere Teilhabe an materiellen Gütern beschränkt, zeigte eine WHO-Studie. 2006 gaben knapp 13 Prozent der in Hessen befragten Neun- bis 17-Jährigen an, "manchmal", "oft" oder "immer" hungrig ins Bett oder in die Schule zu gehen.

Finanzieller Mangel führt auch zu soziokultureller Verarmung. Mittelfristige Folge ist oft der Verlust von Alltagskompetenzen. Der Gegenstand dieser Diskussion hat viele Namen: Subproletariat, White Trash, Unterschicht, geteiltes Volk. Was in den Diskussionen um das "abgehängte Prekariat" bisher jedoch zu kurz kam, ist der medizinische Aspekt. Der Lebensweg des achtjährigen Marcel ist nicht nur vorgezeichnet, sondern vorbestimmt. Dieses Kind wird vielleicht einen Schulabschluss machen, kaum aber wird es je eine Ausbildung abschließen. Braucht es auch nicht, denn ins Berufsleben wird es aufgrund früh einsetzender Folgeschäden der Zuckerkrankheit nie einsteigen. Somit hat Krankheit auch einen unmittelbaren Einfluss auf die Entwicklung des Gemeinwesens.

Gerne wird mit dem Finger auf die USA gezeigt, wo nur Bessergestellte Zugang zu umfassender Krankenversorgung haben - mit eklatanten Unterschieden in Therapie und Krankheitsverlauf. Es wäre töricht, weiterhin zu ignorieren, dass auch in Deutschland der sozioökonomische Hintergrund die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen maßgeblich bestimmt - trotz eines noch unbeschränkten Zutritts zur Krankenversorgung.

Kinder - in besonderem Maße kranke Kinder - werden zu Opfern. Das geschieht auch durch das Unvermögen ihrer Erziehungsberechtigten, sich ihrer Pflichten zu stellen, deren Erfüllung Verantwortlichkeit, Genauigkeit und Selbstdisziplin erfordert. Dabei sind nicht nur chronisch kranke Kinder Opfer einer immer weiter auseinanderklaffenden Gesellschaft.

Für Ärzte ist es immer wieder erschreckend, wie wenig Wissen und Verantwortungsbewusstsein "Erziehungsberechtigte" gesunder Kinder oft mitbringen: Mütter wissen nicht, wann ihr Säugling satt ist ("Ich dachte, erst wenn der Brei durch die Nase wieder rausläuft, reicht es"), Eltern erkennen nicht die Ernsthaftigkeit der Situation, wenn ihr 13-jähriger Sohn aus der Schule mit zwei Promille Alkohol im Blut in die Notaufnahme gebracht wird ("Kann doch mal vorkommen") oder wenn das Kind aufgrund einseitiger Ernährung massiv übergewichtig ist ("Der trinkt einfach nix anderes als Mezzo-Mix").

Nicht Geige oder Ballett ist die Frage

Ärzte versuchen, Krankheiten zu heilen oder positiv zu beeinflussen. Das beinhaltet auch Aufklärung hinsichtlich einer gesunden Lebensweise. Unter Erwachsenen sind Risikofaktoren wie Rauchen, Alkohol oder Übergewicht Bestandteil eines ungesunden Lebensstils und somit modifizierbar.

Ob Folgeerkrankungen auftreten, kann tatsächlich beeinflusst werden, wobei dies die Eigenverantwortung herausfordert. Erkrankungen hingegen, die bereits während der Kindheit auftreten, schaffen ungleiche Startbedingungen. Aber auch der Verlauf solcher Erkrankungen müsste keineswegs schicksalhaft unabwendbar sein, käme nicht bei einem Teil der Kinder der "Risikofaktor Eltern" ins Spiel.

Verschiedene Aufrufe, der jungen Generation wieder Tugenden und Wertvorstellungen zu vermitteln, genügen nicht und klingen wie ein frommer Wunsch aus anderer Zeit. In Deutschland geht es für einen großen Teil der Kinder längst nicht mehr um die Frage, ob sie Geige oder Ballett erlernen, sondern ob sie morgens hungrig in die Schule gehen oder als 14-Jährige nach der Schule mit dem Bier in der Hand in der U-Bahn sitzen.

Der Aufruf, Verantwortung zu übernehmen, sollte sich daher zum einen an die Eltern richten. Vor allem jedoch ist es eine gesellschaftliche Aufgabe, Eltern zu helfen, die nicht mehr in der Lage sind, Verantwortung für ihre Kinder zu übernehmen. Die Gesellschaft kann Kindern schwerlich die Eltern ersetzen. Sie muss allerdings Wege finden, Eltern helfend wieder ihre Pflichten nahezubringen. Dies ist nicht getan durch finanzielle Ruhigstellung in Form von Sozialhilfe. Zielgerichtete Programme sind dazu unerlässlich, wenn auch sicherlich nicht umsonst. Umsonst sind nur die Schuldzuweisungen an nicht ausreichend kontrollierende Jugendämter, an Lehrer, Erzieher und Ärzte, die nicht genau genug hinsehen, und natürlich an die Eltern.

Sinnvolle Programme in einem Land zu erarbeiten, das nach wie vor zu den wohlhabendsten gehört, ist nicht nur volkswirtschaftlich dringend erforderlich, sondern stellt schlicht ein humanitäres Gebot dar. Es sollte unabhängig von jeder Rentendiskussion verstanden werden.

- Dr. med. Elke Schäffner ist Fachärztin für Innere Medizin und Nephrologie an der Charité in Berlin - Dr. med. Eva Landmann ist Fachärztin für Kinderheilkunde und Jugendmedizin an der Justus-Liebig-Universität Gießen

© SZ vom 8.9.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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