Kinderarmut:Die Mythen von der Kinderlosigkeit

Deutsche Frauen bekommen immer weniger Nachwuchs. Aber viele Theorien über die Gründe dafür, sind schlichtweg falsch.

Wiebke Rögener

Sicher ist: Die Frauen in Deutschland bekommen heutzutage weniger Kinder als ihre Großmütter zur Welt brachten. Im vergangenen Jahr sank die Zahl der Geburten auf ein neues Tief: Auf tausend Deutsche kamen nur noch 8,5 Geburten, etwa halb so viele wie vor 40 Jahren und weniger als in jedem anderen EU-Land. Der europäische Durchschnitt liegt bei 10,5 Kindern.

Familie, dpa

Glückliche Familie

(Foto: Foto: dpa)

Doch vieles, was mit Schlagwörtern wie "Generation kinderlos", "Land ohne Kinder" oder "Gebärstreik der Akademikerinnen" zu diesem Thema kolportiert wird, ist keineswegs so gewiss - oder auch schlicht falsch.

Gleich viele Kinder in Ost und West

So widerlegt eine soeben vom Max-Planck-Institut (MPI) für Demographische Forschung in Rostock vorgestellte Untersuchung das Gerücht, die ehemals gebärfreudigeren Frauen in Ostdeutschland bekämen seit der Wende viel weniger Nachwuchs als die Frauen im Westteil der Republik.

Zwar fiel die Zahl der Geburten in der ehemaligen DDR am Anfang der 1990er Jahre zunächst dramatisch von 1,6 auf 0,8 Kinder pro Frau. Die Umbruchsituation schien vielen wohl nicht der idealer Zeitpunkt für eine Familiengründung zu sein.

Doch inzwischen ist die Geburtenrate im Osten fast auf Westniveau gestiegen. Das Statistische Bundesamt erwartet, dass sie 2010 in Ost wie West bei etwa 1,4 Kindern liegen wird. Bei genauerer Analyse ist Kinderlosigkeit im Osten sogar viel seltener als im Westen:

Von den Frauen des Jahrgangs 1965 blieben dort 14 Prozent ohne Nachwuchs, im Westen fast doppelt so viele. Auch bekommen Frauen in Ostdeutschland ihr erstes Kind im Durchschnitt schon mit 27,5 Jahren, zwei Jahre früher als im Westen.

Zögern beim zweiten Kind

Allerdings zögern sie länger mit dem zweiten: Während im Westen meist ein Geschwisterchen folgt, bevor das erste Kind den fünften Geburtstag feiert, sind im Osten zu diesem Zeitpunkt sieben von zehn Erstgeborenen noch Einzelkinder.

In 150 Interviews mit Paaren aus Lübeck und Rostock fahndeten die Rostocker Soziologen nach den Ursachen und fanden zwei kulturell unterschiedliche Modelle der Familienplanung.

Im Westen kommt demnach eins nach dem anderen: erst die berufliche Etablierung - vor allem des Mannes - dann die Heirat und dann die Kinder. Ein sicherer Arbeitsplatz gilt als Voraussetzung für die Familiengründung. Für Paare in Ostdeutschland dagegen gehört ein Kind frühzeitig dazu, auch ohne Trauschein und Traumjob.

Womöglich wirkt das Vorbild der Elterngeneration aus DDR-Zeiten nach, vermuten die MPI-Forscher, als Berufseinstieg und Familiengründung in dieselbe Lebensspanne fielen.

Karriere und Kinder - kein Widerspruch

Ein Aberglaube ist auch, dass weibliches Karrierestreben und veränderte Geschlechterrollen die Geburtenrate in den Keller getrieben haben, wie es jüngst auch Eva Herman in ihrem Buch "Das Eva-Prinzip" (Pendo-Verlag, 2006) suggerierte. Die Statistik zeigt, dass das Gegenteil der Fall ist: Demnach scheinen gerade herkömmliche Familienstrukturen weniger Geburten zur Folge zu haben.

Die Mythen von der Kinderlosigkeit

In Ländern, in denen die Erwerbstätigkeit von Frauen hoch ist und der Staat die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf fördert, werden deutlich mehr Babys geboren. So bekommen Frauen in Island und Frankreich durchschnittlich etwa 1,9 und in Skandinavien rund 1,7 Kinder.

Baby, dpa

Deutschland hat weltweit die niedrigste Kinderzahl je 1000 Einwohner. Statistisch gesehen bringt jede Frau 1,36 Kinder zur Welt.

(Foto: Foto: dpa)

"In Deutschland dagegen wird vorrangig die Betreuung von Kindern innerhalb der Familie unterstützt", sagt die Soziologin Michaela Kreyenfeld vom MPI in Rostock. "In der Förderung des Hausfrauenmodells ist Deutschland Spitzenreiter."

Offenbar an den Bedürfnissen vieler Frauen vorbei: Die Vorstellung, dass die meisten Mütter mit den Kindern zuhause bleiben wollen, verweist die PPAS-Studie (Population Policy Acceptance Study) des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung und der Robert-Bosch-Stiftung ins Reich der Legende:

Zwar möchte in Deutschland etwa jede fünfte Mutter nicht berufstätig sein, solange die Kinder klein sind - mehr als in den meisten anderen Staaten. Doch gleichzeitig wollen 62 Prozent der Frauen Kind und Job vereinbaren.

Tatsächlich sind aber nur 20 Prozent aller Mütter im alten Bundesgebiet in Vollzeit berufstätig, in den neuen Bundesländern sind es 48 Prozent. Nur ein knappes Drittel glaubt, das Hausfrauendasein sei genauso erfüllend wie bezahlte Arbeit.

Der Sozialwissenschaftler Steffen Kröhnert vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung stellt bei einem Vergleich der europäischen Staaten fest, "dass die Kinderzahlen dort hoch liegen, wo nicht nur die Frauen emanzipiert sind, sondern die ganze Gesellschaft. Wo nämlich die Berufstätigkeit von Frauen akzeptiert wird, wo sich auch Väter um Kleinkinder kümmern, wo Beziehungen ohne Trauschein und außereheliche Kinder als normal gelten."

Rund ein Drittel der Akademikerinnen sind kinderlos

Zu den Mythen gehört auch die Behauptung, wonach gut 40 Prozent der Akademikerinnen kinderlos bleiben. Zwar wird dies hartnäckig kolportiert, so jüngst wieder von Wiebke Schlenzka in ihrem Buch "Kinder unerwünscht?" (Mensch und Buch Verlag, 2006). "Diese Zahl ist aber mit Sicherheit übertrieben", sagt Michaela Kreyenfeld.

Die Angabe stammt aus einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes, dem so genannten Mikrozensus. Aber darin wurden nur die minderjährigen Kinder gezählt, die im Haushalt der Mutter leben. Volljährige Nachkommen oder Sprösslinge aus früheren Ehen wurden nicht erfasst.

Auch wurde ungenügend berücksichtigt, dass gerade Frauen mit Hochschulabschluss oft spät gebären. "Verlässliche Zahlen gibt es nicht", sagt Kreyenfeld. "Die Kinderlosigkeit von Akademikerinnen liegt zwar über dem Durchschnitt, aber wohl eher bei 30 Prozent." In diesem Herbst beginnt das Statistische Bundesamt eine Befragung von 15 000 Frauen, die genaue Daten liefern soll.

Männer scheuen Vaterschaft

Ohnehin sind es eher Männer als Frauen, die die Elternschaft scheuen. In den 14 für die PPAS-Studie untersuchten Ländern wünschen sich fast durchgängig die Frauen mehr Kinder als die Männer. 15 Prozent der Frauen in Deutschland gaben an, sie wollten kinderlos bleiben, aber fast 23 Prozent der Männer. Statt vom Gebärstreik müsste demnach eher vom Zeugungsstreik die Rede sein.

Falsch ist schließlich auch die Prophezeiung, Frauen in Deutschland bekämen künftig immer weniger Kinder. Zwar sinkt die Geburtenzahl bezogen auf die Gesamtbevölkerung, doch hat das vor allem mathematische Gründe: Die steigende Lebenserwartung verringert den Anteil der Frauen im gebärfähigen Alter.

Deutsche Frauen bekommen durchschnittlich 1,4 Kinder

Die durchschnittliche Zahl der Kinder, die eine Frau bekommt, pendelt indes laut Angaben des Statistischen Bundesamtes in Deutschland bereits seit dreißig Jahren zwischen 1,3 und 1,4.

Tatsächlich liegt sie aber höher, erklärt Thomas Sobotka vom Wiener Institut für Demographie: Da Frauen immer später Kinder bekommen, sinkt die jährlich erhobene Geburtenziffer zunächst.

Wird die Statistik aber um diesen Tempo-Effekt korrigiert, ergäben sich für kein europäisches Land weniger als 1,5 Kinder pro Frau, so Sobotka. Richtig ist allerdings, dass dieser Wert über 2 liegen müsste, damit die Gesamtbevölkerung wächst.

In der PPAS-Studie nannten die meisten befragten Europäer bessere Elternzeit-Modelle als wichtigsten Faktor, der es ihnen erleichtern würde, sich für ein (weiteres) Kind zu entscheiden.

Auch die deutschen Möchtegern-Eltern hatten klare Vorstellungen: Sie wünschten sich vor allem mehr Möglichkeiten der Teilzeitarbeit, flexiblere Arbeitszeiten und bessere Tagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren.

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