Süddeutsche Zeitung

Kinder und Sport:Bewegung? Nein danke!

"Manche Viertklässler kommen keine Sprossenwand hoch." Sportwissenschaftlerin Monika Siegrist über träge Schulkinder und die Bedeutung regelmäßiger Bewegung.

Sibylle Steinkohl

Null Bock auf Bewegung: Viele Kinder sind heute zu dick und zu träge. Um dies zu ändern, ermuntert Monika Siegrist vom TU-Lehrstuhl für präventive und rehabilitative Sportmedizin in Projekten an bayerischen Schulen die Kinder zu körperlicher Aktivität. Die promovierte Sportwissenschaftlerin erläutert, warum Sport im Verein allen Kindern guttut.

SZ: Wie viel Bewegung braucht ein Kind täglich?

Siegrist: Bis zum sechsten, siebten Lebensjahr sollte sich ein Kind zwei bis drei Stunden am Tag bewegen. Das fördert die Motorik und macht fit für die Schule. Grundschulkinder brauchen täglich eine Stunde körperliche Aktivität. Die Realität sieht leider oft anders aus.

SZ: Sie haben oft Kontakt mit Schulklassen. Wie sportlich sind die Kinder?

Siegrist: Die motorischen Fähigkeiten vieler Kinder sind zurückgegangen. Manche Viertklässler können heute keine Sprossenwand hochklettern und keinen Purzelbaum machen. Sie wissen nicht, dass sie sich für einen Felgabschwung am Reck festhalten müssen. Auch die Ausdauer ist schlechter geworden. Viele Kinder sind nicht mehr gewöhnt, bei Ausflügen ein längeres Stück zu Fuß zu gehen.

SZ: Gibt es soziale Unterschiede?

Siegrist: Ja, Kinder mit Migrationshintergrund oder aus benachteiligten Familien sind häufiger motorisch nicht fit, sie haben auch häufiger Übergewicht und sind weniger in Sportvereinen integriert. Diese Ergebnisse einer großen bundesweiten Studie von 2006 decken sich mit unserer Erfahrung. Die TU-Sportmedizin betreut in einem Projekt Grundschulen in Bayern. In einigen Kleinstädten sind 70 Prozent der Schüler im Sportverein, in zwei Schulen im Münchner Norden besuchen dagegen nur 30 bis 35 Prozent der Kinder einen Sportverein. Interessant ist auch, dass Mädchen insgesamt weniger Sport treiben als Jungen und früher damit aufhören, etwa mit zehn.

SZ: Schulsport, dazu ein bisschen radeln, Fußball spielen oder schwimmen. Reicht das nicht?

Siegrist: Nein, viele Kinder haben nur zwei bis drei Sportstunden in der Woche, viele fahren in der Stadt nicht Rad oder dürfen nicht allein raus. Ihnen fehlt der aktive Ausgleich am Nachmittag, sie sitzen durchschnittlich neun Stunden am Tag - in der Schule, bei den Hausaufgaben, vor dem Fernseher und Computer.

SZ: Also besser in den Sportverein?

Siegrist: Ja, die Regelmäßigkeit ist ein großer Vorteil, auch wir Erwachsenen brauchen doch feste Termine. Das Wichtigste ist aber, Spaß mit Freunden zu haben - und dabei noch zu lernen. Tänze müssen gezeigt, Fußballtechniken geübt werden. Allerdings haben gerade benachteiligte Familien oft dafür kein Geld und es gibt niemanden, der das Kind hinfährt. Auch die soziokulturelle Hemmschwelle ist hoch. Deshalb sind wohnortnahe Sportangebote wichtig. Die Schulen sollten verstärkt darauf aufmerksam machen und die Kontakte herstellen.

SZ: Welche Sportarten empfehlen Sie?

Siegrist: Gerade die Jungen brauchen nicht nur leistungsorientierte Angebote. Ein übergewichtiger Junge wird im Fußballverein gern ins Tor geschickt und bei Turnieren nicht aufgestellt. Das grenzt aus und motiviert nicht. Die Vereine sollten neue Werte setzen und auch Gruppen anbieten, die mehr auf das Miteinander achten und weniger auf die Leistung. Mädchen mögen oft Tanz und Hiphop. Kampfsportarten und Klettern sind hoch im Kurs, auch Streetball, Basketball und Frauenfußball. Da fehlen ausreichend Angebote für Mädchen.

SZ: Dass Sport gesund ist, weiß jeder. Warum genau?

Siegrist: Ein interessanter Aspekt: Wer übergewichtig ist und Sport macht, hat eine geringere gesundheitliche Gefährdung. Durch die körperliche Aktivität verändert sich der Stoffwechsel, die Gefäße werden weniger geschädigt und der Blutdruck normalisiert sich. Für Mädchen ist die Prävention der Osteoporose wichtig. Durch Sportarten, bei denen Kraft eine Rolle spielt, entstehen knochenwirksame Reize. Wie brüchig später die Knochen sind, entscheidet sich hauptsächlich zwischen zehn und 20. Dass Sport die Muskulatur stärkt und und Rückenschmerzen vorbeugt, stimmt nach wie vor.

SZ: Und Sport ist sicher auch gut für Gehirn und Seele?

Siegrist: Einer Studie zufolge haben Kinder, die viel fernsehen, einen niedrigeren Schulabschluss. Die passive Zeit lässt sich durch Sport reduzieren. Die meisten Kinder haben ja Spaß an der Bewegung, wenn sie dazu hingeführt werden. Wer sich nachmittags austobt, kann sich in der Schule besser konzentrieren. Außerdem lässt sich gerade im Sportverein das soziale Miteinander fördern. Wir wissen, dass allein die Integration in die Gruppe zu einem besseren allgemeinen Gesundheitsempfinden führt.

SZ: Dann brechen Sie sicher eine Lanze für das SZ-Adventskalender-Projekt "Sport für alle Kinder"?

Siegrist: Natürlich. In einem guten Sportverein lernt man Regeln einhalten, Konflikte angemessen bewältigen, Verantwortung übernehmen und die Frustrationstoleranz zu steigern. Gruppenerfahrungen sind heute wichtiger als vor zehn oder 20 Jahren, wo die Familien noch intakter waren. Außerdem haben die Kinder Erfolgserlebnisse. Beim Sport merken sie, wie toll sie sind und was sie alles können. Davon sollten Kinder aus sozial benachteiligten Familien nicht ausgeschlossen sein.

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Quelle:
SZ vom 29.08.2009/aro/bre
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