Kinder und Natur:Der Verlust der Freiheit

Viele Kinder fühlen sich fremd in der Natur, weil ihre Eltern absolute Sicherheit wollen. Nun formiert sich eine Gegenbewegung: Kinder, klettert wieder auf Bäume!

Petra Steinberger

Die Zehen zuerst. Da kitzelt was. Gleich piekst es. Und krabbelt. "Gras", schreit das kleine Mädchen. "Gras." Und zieht die Füße wieder zurück. Besser auf den Steinplatten bleiben. Deren Beschaffenheit kennt sie.

Kinder und Natur; ap

Natur erleben: Ein Mädchen im Weizenfeld riecht an einer Mohnblume.

(Foto: Foto: ap)

Drei Jahre ist sie alt, sie wohnt in einer sehr großen Stadt mit sehr wenigen öffentlichen Parks, und Gras ist etwas eindeutig Neues für sie. Ein bisschen unheimlich. Die Hängematte zwischen den Bäumen ist ihr auch nicht geheuer und auch der Wasserschlauch mit Wasser drin, und irgendwie passt auch die Kleidung nicht fürs Herumtoben. Merkwürdig kann die Welt draußen erscheinen, wenn die Spielorte, die sie kennt, vor allem aus Sand und Teer bestehen. In die Natur begibt sie sich wie in ein Kampfgebiet, im Sommer 2009.

Ein neues Wohlstandselend

Vor kurzem schrieb ein bedeutender amerikanischer Kolumnist, der sich gewöhnlich um die Rechte der Unterdrückten kümmert, wie es sich anfühlt, wenn man eine amerikanische Bananenschnecke (Ariolimax) abschleckt (die Zunge wird taub). Es ging allerdings nicht um ungewöhnliche neue Foltermethoden.

Nicholas Kristof von der New York Times, zweifacher Pulitzer-Preisträger, sorgt sich um ein neues Wohlstandselend: den Verlust des Naturerlebnisses bei Kindern. Kinder, und das meint nicht nur Kristof, sollten das große Draußen kennenlernen. Also in ihrem Leben einmal eine Schnecke abschlecken. Oder einen Regenwurm. Vielleicht einmal vom Baum fallen (nicht zu sehr). Baumhäuser bauen. Ameisenhügel untersuchen. Mit ein paar Freunden, aber ohne Eltern von der Art, die ständig über ihnen kreisen wie Polizeihubschrauber.

Generation ohne Beziehung zur Natur

Psychologen haben das Phänomen der Naturfremde schon länger beobachtet - eine britische Studie hat nun statistisch nachgewiesen, dass sich inzwischen mehr Kinder verletzen, weil sie aus dem Bett fallen anstatt aus Bäumen. Und das liegt keineswegs daran, dass sich Kinder in den letzten Jahren zu begnadeten Baumkletterern entwickelt hätten. Sie tun es einfach immer weniger.

Untersuchungen aus verschiedenen westlichen Ländern zeigen zunehmend, dass hier eine Generation heranwachsen könnte, die keine Beziehung mehr zur Natur hat. Britische Kinder können kaum noch die wichtigsten Vogelarten der Insel auseinanderhalten. Deutsche Kinder wissen zwar, dass Kühe nicht lila sind, dafür malen sie Enten so gelb wie die Quietsch-Ente in der Badewanne. Der Besuch amerikanischer Nationalparks sank in den letzten Jahren um 25 Prozent. Die Amerikaner haben einen neuen Namen für diese zunehmende Unkenntnis und Unerfahrbarkeit der Natur erfunden: "Nature Deficit Disorder." Naturmangelstörung.

Geprägt hat diesen Begriff der Autor Richard Louv in seinem Buch "Last Child in the Woods", das er 2005 veröffentlichte und das seither Furore macht. Kinder, lautet Louvs These, verbringen immer weniger Zeit in der Natur, was aber nur zum geringsten Teil daran liege, dass Menschen zunehmend in Städten leben. Denn Natur kann man überall finden: in einer Ansammlung von Büschen und wildem Gras, das sich durch den Asphalt schmuggelt, in einem Hinterhof oder in verlassenen Lagerräumen, in denen man sich verstecken kann. Zum Naturerleben gehört aber eines unbedingt: die Zeit und die Freiheit, unbeaufsichtigt die Welt zu entdecken.

Ständig überwachte Kinder

Louv weist Verantwortung zu: der Gesellschaft, den Medien, aber vor allem den Eltern. Sie bringen "jungen Menschen bei, jede direkte Erfahrung mit der Natur zu vermeiden . . . Schulen, Medien und Eltern verscheuchen die Kinder geradezu aus Wäldern und Wiesen." Natur, meint er, sei für die jüngste Generation eher Abstraktion denn Realität. Ja, zunehmend sei sie geradezu zum käuflichen Gut geworden, etwas "zum Anschauen, zum Konsumieren, zum Anziehen - etwas, das man ignorieren kann".

Und dazu habe noch die "Kultur der Angst" dazu geführt, dass Eltern ihre Kinder ständig überwachen wollen. Es herrscht Angst vor Pädophilen und Entführern - vor allem, das irgendwo dort draußen lauern könnte. Diese Angst wird geschürt von immer neuen Nachrichten über verschwundene und misshandelte Kinder; der Fall des englischen Mädchens Maddie vor zwei Jahren ist da nur ein besonders drastisches Beispiel. Dabei weiß man, dass die Zahl von Kindsentführungen und Morden seit Jahrzehnten relativ stabil geblieben ist; meist stammen die Täter zudem aus dem Verwandten- oder Bekanntenkreis.

Eine andere Angst ist es, die auch Behörden dazu bringt, Kindern das Naturerlebnis schwerzumachen. In manchen englischen Parks hat man den Bäumen bereits die unteren Äste abgesägt. Kinder könnten sich beim Klettern verletzen - und deren Eltern mit horrenden Schadenersatzforderungen aufwarten. Keiner geht gern ein solches Risiko ein, man bleibt im rundum gesicherten Kindergarten.

Alternative zur Superförderungs-Erziehung

Wie es sich gehört, ist aus "Last Child in the Woods" inzwischen eine Volksbewegung geworden, "No Child left inside" heißt es in Amerika und zunehmend auch in Europa. Diese Bewegung versteht sich auch als eine Alternative zu jener Art von Superförderungs-Erziehung, die in Deutschland gerade sehr populär ist und vor allem darin besteht, Kinder ständig zu überwachen, zu bespielen und, meist mit dem Auto, nachmittagelang von einem Event zum nächsten zu kutschieren: von musikalischer Früherziehung zu Chinesisch, Englisch, Spanisch, zum Judo-Training, dann vielleicht noch ein paar Stunden zur Therapie wegen des ADS-Syndroms - das Aufmerksamkeitsdefizit, das die vielbeschäftigten Kinder auch noch in Atem hält.

Merkwürdigerweise erinnert sich gerade die jetzige Elterngeneration sehr gerne an ihre eigene Kindheit in den sechziger und siebziger Jahren. Tagelang, so schien es, entdeckten wir die Welt, zogen verkratzt und verschmutzt durch Wälder, stiegen auf die höchsten Bäume und spuckten alles Mögliche hinunter, sammelten Würmer, nagelten wacklige Baumhäuser zusammen und bauten Staudämme durch Bäche. Wir erlebten die Abenteuer, vor denen wir unsere Kinder heute warnen.

Das erste, große Abenteuer

"Kindheit ist, oder war einmal, oder sollte das erste, große Abenteuer sein, eine Geschichte aus Not und Tapferkeit, aus ständiger Wachsamkeit, aus Gefahr und manchmal auch aus Leid", schreibt der Schriftsteller Michael Chabon über die "Wildnis der Kindheit". Die Forschungen in der jungen Disziplin der Naturpsychologie scheinen dies zu bestätigen. In der Natur, so der Hamburger Erziehungswissenschaftler Ulrich Gebhard, könne man eigene Bedürfnisse erfüllen, Phantasien und Träume schweifen lassen. Es ist die wilde, unkontrollierte Natur, die sich am besten dazu eignet, Grenzen zu testen, Privaträume zu entdecken und das eigene Potential kennenzulernen. Kinder spielen gar nicht so viel auf Spielplätzen. Sie lieben die Ecken, die die Planer vergessen haben.

Und noch einer leidet unter der kindlichen Entfremdung von der Natur: die Natur selbst. Ökologisches Bewusstsein entspringt aus Erfahrung. Doch Kinder erleben die Natur immer weniger in ihrer Wildheit und Unvorhersehbarkeit. Statt dessen sprechen Experten vom "Bambi-Syndrom", nach dem sie vor allem als "süß" und "extrem gefährdet" wahrgenommen wird. Im "Jugendreport Natur" konstatierte der Natursoziologe Rainer Brämer, dass immer mehr Befragte das Betreten des Waldes für schädlich halten und sich selbst aussperren würden.

Diese Entwicklung wollen immer mehr Eltern aufhalten. Wie die Dezernentin der US-Naturschutzbehörde, die eine Freundin ihrer Kinder auf einen Ausflug mitnehmen wollte. Deren Mutter verbat es. Gefragt nach dem Grund meinte sie, im Park gäbe es Schlangen. "Das", antwortete die Dezernentin, "ist einer der Gründe, warum wir dort hingehen. "

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