Kinder und Handys:Die negative Sicht der Dinge dominiert

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97 Prozent der Kinder spielen laut einer aktuellen Studie aus den USA mit Computern und Handys. In Deutschland dürfte das ähnlich sein. Immer neue Alarmmeldungen erreichen die Eltern, zuletzt eine Studie der Uni Hamburg, nach der angeblich 8,4 Prozent der Jungen und jungen Männer computersüchtig seien. Wo man auch hinschaut: In den Medien und in der Medienwissenschaft überwiegt die negative Sicht der Dinge.

Wer bei Google die Stichworte "Medienkonsum" und "Kinder" eingibt, stößt auf seitenweise Artikel mit Titeln wie "Zu viel Smartphone macht Kinder krank" oder "Medienkonsum gefährlicher als angenommen". Unter vielen dieser Berichte stehen Hunderte Kommentare besorgter Eltern. Kürzlich warnte ausgerechnet Tony Fadell, einer der Entwickler des iPhones, vor der suchterzeugenden Wirkung von Smartphones. Am schlimmsten, so Fadell, sei es bei Kindern. Nehme man ihnen das Handy weg, ist es, "als würde man ihnen ein Stück ihres Selbst entreißen".

Das ist der Punkt, den man verstehen muss. Die digitale Welt ist ihre Welt. Kinder erleben in verschärftem Maß, was der polnische Autor und Musiker Piotr Czerski für seine Generation sagt: "Wir benutzen das Internet nicht, wir leben darin und damit." In einem Artikel für Zeit online erklärte Czerski das so: "Das Internet ist für uns kein ,Ort' und kein ,virtueller Raum'. Für uns ist das Internet keine Erweiterung unserer Wirklichkeit, sondern ein Teil von ihr: eine unsichtbare, aber jederzeit präsente Schicht, die mit der körperlichen Umgebung verflochten ist." Wenn der das schon so sagt - der Mann ist 36 -, wie würden es dann Kinder formulieren? Vielleicht so wie der 10-jährige Daniel: "Nee, leben ohne Handy kann ich mir nicht vorstellen."

Für Erwachsene, die ihre eigene Sozialisation zum Maßstab nehmen, ist das schwer zu begreifen. Auch sie leben natürlich mit der digitalen Welt, arbeiten am Desktop, verabreden sich per Facebook und Whatsapp, und wenn sie sich ins Café setzen, legen sie immer als Erstes das Smartphone vor sich auf den Tisch. Aber es ist doch anders. Digitale Medien dienen dem Zeitvertreib oder dem Gelderwerb, sie sind dem realen Leben untergeordnet. Ein Treffen im Biergarten, finden Erwachserne, ist besser als ein Chat.

Und die Kinder? "Sie liegen im Heu und hüpfen im Heuhaufen. Sie klettern auf Berge und suchen nach Schätzen, sie verziehen Rüben und verkaufen Kirschen. Sie tanzen um den Mittsommerbaum, sie lesen dem alten Großvater aus der Zeitung vor, sie fahren Weihnachten zum Festessen zu Tante Jenny und laufen Schlittschuh und fallen in den See. Die Hauptsache ist, dass ständig was passiert, und das tut es."

So wie Astrid Lindgren das Leben in Bullerbü beschreibt, dem Sehnsuchtsort jeder glücklichen Kindheit, fühlt es sich für die Älteren richtig an, wenn auch romantisch idealisiert. Auch ihre eigene Kindheit verbinden viele assoziativ mit Spielen auf der großen Wiese, Lesen unter der Bettdecke, mit dem Flirren des Sommers im Gegenlicht. Sind unsere Kinder, so fragen sich manche Eltern, zu solchen Gefühlen überhaupt noch fähig? Erleben sie nicht alles aus zweiter Hand, wenn sie dauernd nur auf ihren Geräten herumtippen?

Jeder, der sich regelmäßig mit Familien austauscht, kennt solche Geschichten: Urlaub in Italien, ein Tag in Venedig ist eingeplant. Man hat Reiseführer gelesen, die Kinder mit der aufregenden Geschichte der Stadt konfrontiert, Fotos gezeigt, die unglaublich tolle Atmosphäre auf der Piazza San Marco beschworen. Und dann fährt die Familie mit dem Motorschiff den Canal Grande entlang, vorbei an prunkvollen Palazzi, die Rialtobrücke kommt in Sicht. Und die Kinder? Schauen auf ihre Handys. "Ja, ich tu's weg, Mama, gleich, noch eine Minute..."

Ein Anlass zum Verzweifeln ist das nicht. Denn erstens stecken die Kinder ihre Geräte dann doch irgendwann weg und nehmen die Schönheit ihrer Umgebung wahr. Und zweitens muss man wohl einfach zur Kenntnis nehmen: Widerstand ist zwecklos, zumindest der fundamentale. Und auch unsinnig, denn die Allgegenwart des Digitalen ist ja real, sie lässt sich nicht wegreden und nicht verbieten.

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