Kinder und Gaming:Wer ist Kitten471?

Eine Szene aus dem Computerspiel Fortnite

125 Millionen Nutzer spielen so wie der Sohn unseres Autors das Action-Spiel Fortnite.

(Foto: Koch Media)

Der neunjährige Sohn unseres Autors befreundet sich beim Videospiel Fortnite mit einer unbekannten Nutzerin. Ist das süß oder gefährlich?

Von Jürgen Schmieder

Mein Sohn Finn hat eine Freundin. "Eine gute Freundin", betont er stets, für einen Neunjährigen ist der Unterschied so wichtig wie der zwischen Leben und Tod. Die beiden sprechen über Probleme in der Schule, über den Unterschied zwischen Freundin und guter Freundin und darüber, dass sie nun mal wieder jemanden töten könnten. Schon richtig gelesen: töten - und das ist noch nicht mal das Gruseligste an dieser Freundschaft. Er hat das Mädchen noch nie getroffen. Er weiß nicht, wie sie aussieht, wo sie wohnt oder wie sie heißt. Er nennt sie nur "Kitten". Kätzchen.

Kitten 471 ist der (von der Redaktion geänderte) Spielername der jungen Frau beim Videospiel "Fortnite", das weltweit zum popkulturellen Phänomen geworden ist: Fußballprofis bejubeln ihre Tore mit "Fortnite"-Tänzen, Promis verkleiden sich als "Fortnite"-Figuren, der Erfolg in einer Spielrunde ("Epischer Sieg") ist ein auf dem Schulhof ähnlich anerkanntes Statussymbol wie früher das vollständige Paninialbum. Mehr als 125 Millionen Menschen haben die kostenlose Onlineversion von "Fortnite" auf PC, Konsole oder Handy installiert, laut der Analysefirma SuperData hat der Hersteller Epic Games alleine im Mai mehr als 318 Millionen Dollar eingenommen, weil Spieler stets neue Figuren und Tänze kaufen.

Das "Battle Royale" genannte Spielprinzip ist so einfach wie brutal: 100 Leute landen per Fallschirm auf einer postapokalyptischen Insel, sie müssen Ressourcen sammeln, einem Sturm entkommen, Festungen bauen - und sie müssen sich gegenseitig töten, der letzte Überlebende gewinnt die Runde. Das klingt grausam, ist aber aufgrund der comichaften Darstellung ein vergleichsweise harmloses Ballerspiel. Man sieht weder Blut noch Leichen, und abgeschossene Spieler sind nicht tot, sondern fliegen nur raus.

Die für Altersempfehlungen bei Videospielen zuständige USK hat das Spiel "ab 12 Jahren" freigegeben. Allerdings hat sie den besonders beliebten kostenlosen Spielmodus "Battle Royal", in dem Spieler wirklich gegeneinander kämpfen, nicht geprüft. Der Spieleratgeber NRW empfiehlt diese Variante erst ab 14. Gespielt aber wird das Spiel in Deutschland und auch in Kalifornien, wo ich mit meiner Familie als SZ-Korrespondent lebe, von viel jüngeren Kindern.

Man kann sich bei "Fortnite" zu einer Mannschaft vereinen, man muss dann kooperieren und sich gegenseitig retten und verarzten. Bei dieser Variante hat mein Sohn Kitten471 kennengelernt. Es war der Beginn einer wunderbaren und sonderbaren Freundschaft, bei der wir Eltern, aufgewachsen auf dem Bolzplatz, mit Paninialbum und mit Offline-Gameboy, aber so was von keine Ahnung haben, wie wir damit umgehen sollen. Vor zwei Wochen hat er mir mitgeteilt, dass er dieses Mädchen auf der Liste seiner besten Kumpels unter den besten fünf führen würde.

Dürfen Eltern das süß finden - oder ist es gruselig und womöglich gar gefährlich?

"Viele Eltern denken, dass dies nun mal die neue Welt ist", sagt der Psychologe Kris Mohandie, der auf jugendliche Gewalt spezialisiert ist: "Sie beschäftigen sich nicht wirklich damit, was ihre Kinder spielen. Und weil sie nicht als ahnungslos dastehen wollen, erlauben sie ihren Kindern alles. Sie sollten am Leben der Kinder teilhaben."

Eine wunderbare und sonderbare Freundschaft

Dann mal los: Ich habe "Fortnite" selbst probiert und mittlerweile neun Siege geschafft. Das sorgt beim Bier mit Bekannten (die bis auf wenige Ausnahmen selbst zocken) für das gleiche müde Nicken wie früher neun vollständige Mannschaften im Bundesliga-Paninialbum: kein Anfänger, der Typ, aber noch weit entfernt von allgemeiner Anerkennung. Ich mag das Spiel, erkenne aber auch die Risiken. "Fortnite" ist aufwühlend, ich träume bisweilen davon, und es ist zweifelsfrei mit dem Ziel entwickelt worden, die Spieler süchtig zu machen und ihnen immer mehr Geld für coole Figuren und Tänze zu entlocken.

Es ist aber auch eine völlig neue Form der Kommunikation, die da entsteht, vor allem für Kinder. Unser Sohn hat kein Mobiltelefon, es gibt in unserer Wohnung keinen Festnetzanschluss. "Fortnite" ist für ihn, was für mich der Bolzplatz gewesen ist: eine Arena zum Messen der Fähigkeiten, aber auch eine Stätte der Begegnung. Er zockt und unterhält sich dabei über den Sprachchat am liebsten mit dem Nachbarsjungen und zwei Klassenkameraden. Seine Lieblingsmannschaft besteht allerdings aus Fremden, weil die besser zocken.

Es gibt in unserer Familie klare Regeln für den Umgang mit fremden Spielern: Gespielt wird ausschließlich im Wohnzimmer. Verraten werden dürfen nur Vorname, Alter und Bundesstaat. Die Eltern von Kitten 471 haben offenbar noch strengere Vorgaben gemacht: Sie behauptet, dass sie Andrienne heißt, zehn Jahre alt ist und in Florida wohnt. Ich bezweifle das, weil sie eine Zeitverschiebung von zwei Stunden angibt, die zwischen Kalifornien und Florida beträgt aber drei Stunden.

"Da nehmen Fremde ein paar Minuten an unserem Leben teil"

Bin ich paranoid, weil mich so was beschäftigt? Oder bin ich rechtmäßig besorgt, so wie Millionen anderer Eltern gerade besorgt sind? Da nehmen Fremde ein paar Minuten an unserem Leben teil, wenn mein Sohn ihnen etwa mitteilt, dass er später Baseball spielen wird, dass Mama gerade Nudeln kocht oder dass Papa mal wieder unglaublich nervt.

Selbst Experten sind da sehr unterschiedlicher Meinung. "Es ist eine Pseudo-Freundschaft", sagt der Psychologe Mohandie: "Bitte nicht falsch verstehen: Es gibt durchaus tief gehende Cyberbeziehungen. Eine Freundschaft definiert sich jedoch nicht nur durch das gemeinsame Interesse an einem Computerspiel." Die beste Freundin des Kindes solle niemand sein, den es nur online kennt, rät er. Das könne zu einem gefährlichen Rückzug aus der wirklichen Welt führen.

Das deckt sich mit unseren Erfahrungen. Finn, im wahren Leben ein hyperaktiver Sportler und von seiner Lehrerin als höflich beschrieben, verwandelt sich beim Spielen zum Gangsta-Rapper. Er verwendet andere Wörter. Ein Kumpel heißt nicht mehr "Dude" sondern: "Bruh", auf deutsch: "Alta". Er taucht in diese fiktive Welt ein und interessiert sich kaum noch dafür, was um ihn herum passiert.

Die Psychologin Catherine Steiner-Adair, Autorin des Buches "The Big Disconnect", in dem es um Entfremdung durch Digitalisierung geht, sieht trotzdem auch positive Effekte des Spiels: "Wir haben beobachtet, dass sich Kinder intensiver unterhalten, weil sie den anderen nicht kennen und weder Mimik noch Körpersprache interpretieren können. Das bedeutet: Sie hören einander tatsächlich zu." Dieses intensive Zuhören übe die reizüberflutete Jugend nur noch selten, die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne von Kindern sei in den vergangenen 20 Jahren um vier Sekunden gesunken: "Die Konzentration auf das gesprochene Wort trainiert das Gehirn, dazu lernen sie Teamwork und Gleichberechtigung."

Aussehen oder Geschlecht spielen keine Rolle

Auch das stimmt: Unser Sohn hat, was Wünsche der Eltern im wahren Leben angeht, ein unfasslich schlechtes Gehör - während einer "Fortnite"-Runde ist er aufmerksam, hilfsbereit, zuvorkommend.

Dritte und erstaunlichste Beobachtung: Es scheint niemanden zu kümmern, wie jemand aussieht, woher jemand kommt, ob jemand teure Klamotten trägt. Es gibt keinen Zwang zur optischen Selbstoptimierung, wie das auf sozialen Netzwerken üblich ist. Selbst das Geschlecht ist beim Spielen unbedeutend, mein Sohn wusste lange noch nicht einmal, dass Kitten471 ein Mädchen ist - und es ist ihm auch egal.

Erwachsene sind ja darauf konditioniert, alles Neue und Unbekannte erst einmal für einen Hinweis auf das Ende der Zivilisation zu halten. Erst kürzlich gab es Berichte darüber, dass eine 33 Jahre alte Frau aus Arizona einen 14 Jahre alten Buben bei einem Online-Spiel kennengelernt hat. Sie schickte ihm Nacktfotos von sich und lud ihn zu einem Sextreffen ein. Oder dass ein Einbrecher in Texas beim scheinbar harmlosen Dialog während des Zockens die Adresse des Mitspielers und günstige Zeiten für einen Diebstahl erfragt hat. Da klingt es ja schon fast harmlos, wenn einem ein Fremder beim gemeinsamen Spielen die 15 schlimmsten Schimpfwörter der englischen Sprache entgegen schleudert.

Was also tun?

Wir haben unsere Regel für den Umgang mit "Fortnite" erweitert. Gespielt wird nur am Wochenende und nur mit Gleichaltrigen, beim ersten unfreundlichen Wort meines Sohnes wird die Konsole ausgeschaltet. Er darf Online-Freunde haben, so lange er die Kumpels im realen Leben nicht vernachlässigt. Ich habe keine Ahnung, ob mich das zum Vater oder Idioten des Jahres macht - je nach Psychologe ist beides möglich. Als ich diese Woche ins Wohnzimmer gekommen bin, hat mein Sohn nicht "Fortnite" gespielt, sondern sich mit Kitten 471 unterhalten - auffällig lange über den Unterschied zwischen Freundin und guter Freundin und natürlich auch darüber, dass Papa wieder so unglaublich nervt.

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