Süddeutsche Zeitung

Kinder kranker Eltern:Wenn Mama plötzlich müde ist

Kinder geben sich oft die Schuld, wenn ein Elternteil schwer erkrankt. Psychologen bauen deshalb Betreuungsangebote für verschiedene Altersgruppen auf.

Der Junge war fünf Jahre alt, als bei seiner Mutter Krebs diagnostiziert wurde. Sie starb an der bösartigen Krankheit, als er 15 war. Viele Jahre lang glaubte das Kind, dass es schuld sei an der Erkrankung seiner Mutter. Erst mit 14, als er sich dem Kinderpsychiater Henning Flechtner anvertraute, konnte sich der Junge von diesem Gefühl befreien.

Fast zehn Jahre lang hatte er mit niemandem darüber reden können und sich mit seinem schlechten Gewissen herumgequält. "Sie können sich vorstellen, wie belastet seine Kindheit war", sagt Henning Flechtner, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. "Er hatte immer im Hinterkopf: Weil ich das und das gemacht habe, ist die Mutti krank geworden."

Dank neuer Therapien überstehen mehr Erwachsene eine Krebserkrankung, leben länger. Und das bedeutet, dass auch immer mehr Familien betroffen sind. So müssen sich auch immer mehr Kinder damit auseinandersetzen. "Aber vielen Eltern gelingt es sehr schlecht, offen mit ihren Kindern über ihre Krankheit zu sprechen. Da spielt etwa die Todesbedrohung eine Rolle. Manche ziehen sich zurück, beschäftigen sich mit sich selbst, andere spielen heile Welt, tun so, als sei alles ganz normal", benennt Flechtner die möglichen Probleme. Die Kinder spüren, dass etwas nicht stimmt, können es aber nicht richtig zuordnen.

Weniger Zeit für Hobbys und Freizeit

Bereits Kindergartenkinder bemerken, wenn sich die Stimmung zu Hause verändert. Sie sehen, wenn der Mutter die Haare ausfallen. Sie reagieren darauf, wenn sie ins Krankenhaus muss. Große Probleme können entstehen, wenn niemand über die Krankheit redet und die Kinder das Gefühl entwickeln, irgendwie schuld daran zu sein. "Hier ist es wichtig, dass wir, gestaffelt nach Alter, spezielle Angebote machen - für Kinder zwischen 0 bis 18", sagt Flechtner. "Für die ganz Kleinen ist das sicher schwierig, aber ich kann mir auch vorstellen, dass ein 19-jähriger, der noch zu Hause wohnt, zu uns kommt."

Kinder schwer kranker Eltern übernehmen oft mehr Pflichten im Haushalt, müssen sich stärker um jüngere Geschwister kümmern, so dass wenig Zeit bleibt für Hobbys und Freizeit. Es gibt Schätzungen, wonach in Deutschland 5 bis 15 Prozent aller Kinder in Familien aufwachsen, in denen einer ihrer Eltern an einer chronischen Erkrankung leidet, in jedem dritten Fall an Krebs.

Für diese Kinder und Jugendlichen gab es bislang in Deutschland keine systematischen Betreuungsangebote. Seit dem Frühjahr finanziert die Deutsche Krebshilfe für vorerst drei Jahre ein Verbundprojekt "Psychosoziale Hilfen für Kinder krebskranker Eltern" an den Universitäten in Hamburg, Berlin, Leipzig, Magdeburg und Heidelberg. 2,8 Millionen Euro werden für die erste Projektphase bereitgestellt.

Depressionen und Ängste

An jedem dieser Standorte widmen sich die Experten einem anderen Thema. In Berlin sind es die Geschwisterkinder, in Leipzig die Vorschulkinder, in Heidelberg Jugendliche, und in Magdeburg wird die Lebensqualität der betroffenen Familien untersucht. In Hamburg schließlich wird das Projekt koordiniert, wird erforscht, wie groß der Bedarf an derartigen Betreuungsangeboten tatsächlich ist.

Neben der direkten Hilfe für die betroffenen Kinder soll auch das Befinden erforscht werden. "Wir vermuten bei den Kindern erhebliche Beeinträchtigungen, Depressionen, Ängste und so weiter. Das vermuten wir, genauer wissen wir es aber nicht", sagt Flechtner.

Momentan ist das Betreuungsangebot in Magdeburg im Aufbau. Die kleinen Patienten werden im Klinikum Magdeburg gemeinsam mit der Universität ambulant betreut. Henning Flechtner stellt sich neben Einzeltherapie auch Familien-, Gruppen- oder Spieltherapien vor. In Gruppen könnten sich Jugendliche oder Eltern untereinander austauschen, wie sie mit der Krankheit umgehen. Die Kapazitäten, schätzt Flechtner, werden schnell ausgeschöpft sein. "Das ist keine Fünf-Minuten-Therapie", sagt er, "dafür wir brauchen Zeit."

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