Kinder-Erziehung:Das Ende der Schnullerfee

Elternführerschein, Rauchverbot, Disziplin - an Erziehungstipps mangelt es Eltern nicht. Nur über Liebe wird kaum gesprochen.

Martin Zips

Der Neokonservativismus hat die Wiege erreicht. Warum sollten sich Eltern nach ihren Kindern richten, wenn die Kinder sich auch nach ihren Eltern richten können?

Kinder-Erziehung: Wie macht man es richtig?

Wie macht man es richtig?

(Foto: Foto: AP)

Nicht nur der Jugendliche, schon das Kleinkind und das Baby schreien nach strenger Erziehung. Deutschland braucht klar geregelte Fütterzeiten, eine kompromisslos verordnete Nachtruhe und eindeutige Familienhierarchien. Stundenlanges Fläschchengeben im Morgengrauen oder Zusammenrücken im Ehebett - das war einmal. Quengeln gefährdet den Reifeprozess.

Moment. Hatte man sich nicht gerade darauf geeinigt, alles ganz nach den Bedürfnissen der Kinder zu richten? Sollten unsere Kinder nicht genauso frei und ungezwungen aufwachsen wie Pippi Langstrumpf? Sollten sie nicht so selbstständig sein wie Ronja Räubertochter, frech wie Pumuckl und einfallsreich wie Snoopy?

Alles vorbei. Ein Elternführerschein wird diskutiert, Rauchverbot im Familienkombi, die Kopplung von Kindergeld an den Besuch von Erziehungskursen. Und was wird aus der lustigen Patchworkfamilie, wo jeder ein bisschen an jedem herumerziehen darf?

Krümelmonsters Anarchie

Fernsehen, FAZ und Bild promoten seit Wochen das Buch "Lob der Disziplin" - eine so genannte Streitschrift von Bernhard Bueb, einst Leiter des Elite-Internats Schloss Salem.

Buebs Buch steht auf Platz 3 der aktuellen Spiegel-Sachbuch-Liste. Es findet sich gleich hinter dem sinnsuchenden Hape Kerkeling und noch vor den Ergüssen der Jetzt-aber-richtig-Mutti Eva Herman. Disziplin ist ein Thema, keine Frage.

Und auch wenn der Schriftsteller Matthias Altenburg gegen den "Katastrophenmanager Bueb" in der Zeit zu Felde zieht ("Mit Disziplin kann man den Regenwald abholzen, in den Krieg ziehen und, wie Oskar Lafontaine in seinen lichteren Momenten formulierte, ,ein Konzentrationslager führen""), so bleibt doch die Sehnsucht nach Riten, Werten und Regeln. Sogar bei denen, die einst die Anarchie des Krümelmonsters so sehr liebten - und nun selber Kinder haben.

Gina Ford, eine Säuglingsschwester aus Edinburgh, kämpft seit Jahren mit Büchern, Fernsehauftritten und auf ihrer Homepage für Ordnung und Disziplin am Babybett.

"Es geht auch um die Gesundheit der Eltern", meint Ford. "Ständiges Aufwachen in der Nacht macht aus gesunden Menschen Wracks."

In ihrem Millionenbestseller "The Contented Little Baby Book" und zahlreichen weiteren auf Englisch erschienenen Büchern plädiert sie für einen gut geregelten, minutengenauen Tagesablauf. Fläschchen geben, wickeln, Schlafen legen - alles im Dreistunden-Takt.

Sollte es auf Anhieb nicht klappen: Hart bleiben. Durchziehen. Ansonsten droht ein Trauma. Für die Eltern natürlich.

"Ein Säugling hat das Recht, geliebt zu werden, aber nicht der Nabel der Welt zu sein. Für die Wünsche der Eltern muss immer noch Raum bleiben." Sätze von einer weiteren englischen Autorin namens Rachel Waddilove. Die Mittfünfzigerin, ebenfalls Säuglingsschwester sowie Mutter von drei Töchtern, hat die Kinder von Lady Mountbatten und Filmstars wie Gwyneth Paltrow betreut.

Das Ende der Schnullerfee

Babys, meint Waddilove, sollten möglichst früh lernen, sich selber zu trösten. Zum Beispiel durch die Methode "Ausheulen lassen".

Merke daher: Wer modern sein will, der sollte die Schnullerfee schleunigst aus dem Kinderzimmer verbannen. Kleinkinder, die tagsüber schreien, gehören sofort auf den Auszeitstuhl. Und spielen bis nachts um zehn - das gibt es nicht mehr. Disziplin, Disziplin, Disziplin. Sonst gerät die Familie in die "Verwöhnungsfalle", wie es der deutsche Erziehungswissenschaftler Albert Wunsch in seinem gleichnamigen Buch nennt.

Tausend Titel zum Thema Kindererziehung

Aber wie macht man das mit der Disziplin, wenn man selber immer so freimütige Familienmitglieder und tolerante Pädagogen um sich hatte? Das immense Angebot an entsprechenden Ratgebern auch auf dem deutschsprachigen Buchmarkt belegt die Suche nach Antworten bei denen, die jetzt gerade kleine oder etwas größere Kinder aufzuziehen haben.

Fast Tausend Titel sind zum Thema Kindererziehung lieferbar. Mal heißen sie "Die 10 Gebote der Erziehung", mal "Wenn Kinder nicht hören wollen". Die Zahl der individuellen Erziehungsberatungen - sie nennen sich "Triple P" oder "Step" - stieg zwischen 1993 und 2003 um 50 Prozent.

Und es waren nicht weniger als fünf Millionen Zuschauer, die wöchentlich - total diszipliniert - der Supernanny im Fernsehen beim Erziehen zusahen.

Adieu Teletubbies! Adieu Bibi Blocksberg! Die Patchwork-Familie braucht wieder klare, großmütterlich streng formulierte Regeln. Wenn inzwischen 20 Prozent aller Kindergartenkinder als verhaltensauffällig gelten, so muss ja etwas geschehen.

Der Bielefelder Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann schätzt, dass mindestens ein Drittel der Eltern "überhaupt keinen Plan" hat, wie man erzieht.

Dass Vater und Mutter in Sachen Zeitmanagement und freundschaftlicher Autorität völlig überfordert seien. Neben der Kindererziehung gibt es nämlich auch sonst noch allerhand zu tun: Die tägliche Büroarbeit, Behördengänge, Brot einkaufen, bügeln. "Wisse, wo du stehst, und bleibe konsequent", rät die schwedische Disziplin-Expertin Anna Wahlgren, Autorin des oft verkauften "Kinderbuches". Allein: Wahlgren hat neun Kinder von drei verschiedenen Männern. Sie ist siebenfach geschieden. Ist irgendwie auch konsequent.

Die Suche nach Antworten auf die Frage, "ob Erziehung noch gelingt" (Ursula von der Leyen), treibt naturgemäß auch Politiker um. Themenfelder wie Ganztagesschule, Nachmittagsbetreuung, Schuluniform und Kindergartenpflicht noch nicht abschließend behandelt, droht nun - gut gemeint - in die Familie hineinreglementiert zu werden.

"Beziehung kommt vor Erziehung"

Schließlich fordert nach einer Allensbach-Studie fast jeder zweite Deutsche die Einführung eines Elternführerscheins. Eltern, die sich in Gegenwart ihrer Kinder im Auto eine Zigarette anzünden, sollen - geht es nach dem SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach - bald dafür belangt werden. Sozialwissenschaftler Hurrelmann wiederum fordert plakativ, das Kindergeld an den Besuch von Elternkursen zu koppeln.

Wer dort nicht erscheint, der kriegt auch nichts überwiesen. Propagieren englische Autorinnen wie Gina Ford oder Rachel Waddilove also die Befreiung der Eltern und die Selbsttröstung der Babys, so müssen sich deutsche Eltern immer mehr auf verordnete Hilfe gefasst machen.

"Beziehung kommt vor Erziehung", betont der Schweizer Kinderarzt Remo Largo. Der Zeitfaktor sei dabei ein entscheidender Punkt. Die gemeinsamen Mahlzeiten nicht eingerechnet, verbringe ein Vater von Kindern im Kleinkind- und Schulalter durchschnittlich nur 20 Minuten pro Tag mit seinem Nachwuchs. Wenn er diese 20 Minuten lediglich dazu nutze, seine Kinder zur Ordnung zu rufen, so laufe viel verkehrt.

"Eltern, die den ganzen Tag unterwegs sind und am Abend ihren Kindern Grenzen setzen möchten, stoßen auf Ablehnung. Eltern, die ausreichend Zeit mit ihren Kindern verbringen und in einer tragfähigen Beziehung leben, können sich durchsetzen."

In diesem Punkt unterscheidet sich der eher von 1968 geprägte Largo übrigens kaum vom Salem-Pädagogen Bernhard Bueb. Die Einforderung von Disziplin sei allein durch die "Liebe zu Kindern und Jugendlichen" zu legitimieren, schreibt Bueb.

Liebe, Zeit und ein geordnetes Elternhaus. Das ist es eigentlich. Da braucht man weder Elternführerschein, noch siebenfach geschiedene Erziehungsexpertinnen. Und ein verordnetes Rauchverbot im Familienkombi braucht man dann auch nicht.

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