Ihr Sohn hatte noch nie zu denen gehört, die ganz vorne mit dabei sein mussten, die schubsten und drängelten, um als Erste ans Ziel zu gelangen. Ihr Sohn wartete, bis das Gedränge vorbei war und näherte sich dann vorsichtig diesem Ziel. War das Ziel eine Tüte Gummibärchen, ging er manchmal leer aus. Und während sich die anderen von ihm nahmen, was sie wollten (in der Spielgruppe: das laut klingelnde Telefon; bei der Tagesmutter: das rote, blinkende Feuerwehrauto; am Spielplatz: die Schaufel, den Bagger, den Eimer, das Sieb und die Förmchen), stand ihr Sohn jedes Mal fassungslos ob der Dreistigkeit der anderen da.
Er machte keinerlei Anstalten, seinen Besitz zu verteidigen - sogar Jüngere konnten ihm seine Schätze spielend leicht entwenden. Er erhob kein Wort des Protestes. Er starrte nur den Räubern hinterher, die Augen füllten sich mit Tränen, die Lippen zitterten. Das Mutterherz wurde schwer.
"Lass dir das nicht gefallen", sagte sie wieder und wieder. "Halt es fest, du hast doch gerade damit gespielt! Sag laut NEIN - bei mir kannst du das doch auch! Hol es dir zurück!" Doch beim nächsten Mal wieder: kein Protest, feuchte Augen, zitternde Lippen, schweres Mutterherz.
"Da muss er durch, das muss er lernen", sagte die Freundin, deren eigene Tochter sich lieber über den Spielplatz schleifen ließ, als ihre Sandschaufel los- und damit einem anderen Kind zu überlassen.
"Wie soll er das lernen", sagte die Großmutter, "du warst doch als Kind genauso." "Und in welchem Alter habe ich angefangen, mich zu wehren?", fragte die Mutter. "Tja", sagte die Großmutter und hob vielsagend eine Augenbraue.
Nein, ihr Sohn sollte das früher - oder überhaupt - lernen, beschloss die Mutter. Spätestens jetzt im Kindergarten konnte er sich doch nicht mehr alles gefallen lassen. Nun war Schluss mit der guten Erziehung, mit Mahnungen wie "Du sollst andere nicht anschreien und schubsen", jetzt war Zeit für Botschaften wie "Wenn andere dir etwas wegnehmen, darfst du schreien und schubsen!" Bedauerlicherweise wurde dieser Richtungswechsel sabotiert. Vom Sohn.
"Ich darf aber nicht schreien", meinte er betrübt. "Aber ich erlaube es dir hiermit", erklärte die Mutter feierlich. "Aber die Renate im Kindergarten nicht. Und schubsen darf ich auch nicht", sagte der Sohn und seufzte tief.
Also vereinbarte die Mutter ein konspiratives Treffen mit Renate, der Erzieherin. Diese versprach, dem Sohn den Rücken zu stärken und von Fortschritten zu berichten. Nach drei Wochen Rückenstärken nahm sie die Mutter beim Abholen zur Seite: "Ihr Sohn hat ein anderes Kind so geschubst, dass es hingefallen ist." Die Mutter erschrak. Ihr Sohn? "Hat es sich wehgetan", fragte sie besorgt. "Aber woher," beschwichtigte die Erzieherin leicht irritiert. "Das Kind wollte ihm etwas wegnehmen. Endlich hat er sich mal gewehrt!"
In der Mutter regte sich Hoffnung: War das der Durchbruch? War nun Schluss mit feuchten Augen und zitternden Lippen? Ihr Mutterherz wurde etwas leichter. Jeden Mittag bekam sie nun kurze Berichte über die wachsende Wehrhaftigkeit ihres Sohnes. (Mütze vom Kopf gerissen - Kind in Schneehaufen geschubst. Bauklötze umgestoßen - Bauwerk des Zerstörers gefällt. In der Nachtisch-Schlange vorgedrängelt - Rüpel am Pulli wieder an seinen Platz gezerrt.)
Doch als der Sohn einen anderen beim Mittagessen mitsamt Stuhl umkippte, weil der ihn "Salatfresser" genannt hatte, beschlossen Renate und die Mutter, dass der Sohn nun wohl ausreichend verstanden hatte, wie er sich körperlich wehren konnte. Und dass er es nun zur Abwechslung einmal mit Worten versuchen sollte. Das eröffneten sie auch dem Sohn. Er wirkte nicht sonderlich begeistert. Seine neue Wehrhaftigkeit hatte ihm ganz gut gefallen.
Am Wochenende ging die Mutter mit ihrem Sohn zum Spielplatz. Dieses Mal nahm er wieder seinen Lieblingsbagger mit, den er sonst zu Hause gelassen hatte - der Bagger war ihm sonst spätestens nach fünf Minuten abgenommen worden. Und auch dieses Mal, kaum waren die ersten Sandhäufchen ausgehoben, näherte sich ein anderer Junge, riss dem Sohn den Bagger aus der Hand, setzte sich zwei Meter entfernt hin und spielte seelenruhig damit. Der Sohn erhob sich, reglos stand er da. Dann drehte er sich zur Mutter um.
Seine Lippen zitterten nicht. Seine Augen waren nicht nass. "Ich darf nicht schubsen?", fragte er. Die Mutter nickte. "Aber ich darf schreien?", fragte er. Die Mutter nickte abermals. Der Sohn stapfte zum Jungen hinüber, der gerade mit dem Bagger Sand in einen Eimer schob, den er einem Mädchen entrissen hatte. Der Sohn stellte sich genau vor dem Jungen auf, breitbeinig. Der Junge blickte auf. Die Mutter hielt den Atem an.
"DAS IST MEIN BAGGER, GIB IHN SOFORT WIEDER HER!", brüllte der Sohn. Das Mädchen ohne Eimer presste ihre sandigen Hände auf die Ohren. Ein anderes fiel von der Schaukel. Der Junge sprang auf. "GIB! MIR! MEINEN! BAGGER!", brüllte der Sohn, zwei Zentimeter vor der Nase des Jungen. Der Junge warf den Bagger vor sich in den Sand, den Eimer gleich hinterher und flüchtete ans andere Ende des Spielplatzes.
Der Sohn nahm seinen Bagger, strich liebevoll den Sand vom Führerhaus und ging zur Mutter. "Das mache ich jetzt öfter", sagte er zufrieden.