Süddeutsche Zeitung

Kinder - der ganz normale Wahnsinn:Schrei nach Schnuller

Nach drei Jahren ist es höchste Zeit, dass ein Kind ohne Schnuller einschläft. Schön, wenn das auch das Kind einsieht. Aber muss die Premiere unbedingt dann sein, wenn am Abend Gäste eingeladen sind?

Katja Schnitzler

Eigentlich war es ja ganz in meinem Sinn, als mir unsere Dreijährige eröffnete, es sei nun soweit. Heute sei die Nacht der Nächte: "Ich schlafe ohne Schnuller!" Diese voller Stolz vorgetragene Botschaft der kleinen Heldin hätte mich freuen sollen. Schließlich hatte ich das Thema Du-bist-doch-schon-groß-und-musst-nachts-nicht-mehr-nuckeln schon ein paar Mal erwähnt. Bislang war das Kind von der Idee wenig begeistert gewesen, und nun das. Warum ich nicht in Jubel und Lobhudelei ausbrach? Ich wusste, wie es kommen würde, schließlich war das meine Tochter: Bei Tageslicht mutig im Kampf gegen Sandschaufeldiebe und beim Erklimmen von Klettergerüst-Gipfeln. Doch nachts ... allein im Dunkeln ... das ist doch etwas ganz anderes.

Tagsüber war das Schnuller-Entwöhnen bislang kein Problem gewesen, wir hatten klare Regeln vereinbart: nur beim Autofahren (schont die Nerven des Fahrers) und in der Nacht (schont die Nerven aller müden Eltern). Jetzt also ganz ohne. Dass das nur mit Anreiz geht, war klar. Dafür investierte ich zu viel Geld in ein zu hässliches 20-teiliges Puppengeschirr aus knallbuntem Plastik, das das Kind unbedingt haben wollte. Der Plan war: Für jede nuckelfreie Nacht gibt es ein Stück aus dem Service, frei wählbar von der Puppenmutter. Danach sollte das Thema Schnuller erledigt sein.

Leider war meine Tochter eine leidenschaftliche Nucklerin. Das hatte ich schon in der ersten Nacht daheim gemerkt, als Schnuller noch nicht in unser pädagogisches Konzept gepasst hatten und ein Ratgeber empfahl: "Bieten Sie dem Säugling Ihren kleinen Finger als Ersatz an. (Vorsicht, Fingernagel zur Zunge hindrehen, nicht zum Gaumen!)" Eine Woche lang hatten Schwestern im Krankenhaus dem Baby große Schnuller in den kleinen Mund gestopft, daheim sollte es nun ohne schlafen, wollte aber nicht. Also reichte ich den kleinen Finger, was sich leichter anhört, als es war: Hand durch das Gitterbett zwängen, nach hinten biegen, eine leichte Drehung, Finger in den Babymund. Der Kleinen gefiel es, sie saugte sich fest, sehr fest.

Nach fünf Minuten kribbelte mein Arm, nach zehn Minuten war er blutleer. Das Baby schlief, ich war wach und verfluchte den Ratgeber. Nach zwölf Minuten hatte das Baby wieder einen Schnuller im Mund. Und schrie, wenn er herauspurzelte. Später rief sie, wenn der Schnuller weg war. Das war er oft, auch wenn wir fünf um das Kopfkissen herum drapierten. Nun sollte es also ohne funktionieren.

Beim Aufwachen in der Nacht, im Halbschlaf.

Bei schlechten Träumen.

Und vor allem: beim Einschlafen.

Ich war verzagt, mir schwante Übles für den Verlauf unseres ruhigen Abends. Was erschwerend hinzukam: Wir hatten Gäste eingeladen, Nachbarn. Sie waren das erste Mal bei uns und kinderlieb, aber selbst kinderlos und damit ohne jegliche Erfahrung in der Ohne-Schnuller-Dramatik. Das sollte sich ändern.

Meine Tochter, stolz auf sich und ihre Entscheidung, stand noch immer erwartungsvoll vor mir und erwartete ein Lob. Ich muss gestehen, ich war versucht ihr einen anderen Anfangstermin für das schnullerfreie Leben vorzuschlagen. Nicht ausgerechnet heute!

Ich kämpfte möglichst unauffällig mit mir und lobte dann meine "Große" für diese historische, alles verändernde Entscheidung. Natürlich kam ich auch gleich auf das Spielservice zu sprechen, das sie nun Nacht für Nacht, Stück für Stück als Belohnung bekommen würde. Ich erwähnte es an diesem Tag etwa alle zehn Minuten, pries die bunten Teller, Untersetzer, die Tässchen und diese reizende Kaffeekanne. Ganz unauffällig natürlich.

Der Abend begann heiter, das Kind war erfreut über den Besuch. Die Nachbarn hatte ich höflich vorgewarnt, dass es später, nun ja, etwas schwierig werden könnte. Sie drehten trotzdem nicht an der Haustür wieder ab. Vielmehr lobten sie unsere Tochter, so groß schon, schlafen ohne Schnuller, unglaublich, toll! Das Kind nahm die Komplimente freudig an und gab sich souverän.

Dann wurde es ernst, die Spannung stieg (bei den Eltern), die Vorfreude auf das erste Teil des Puppengeschirrs auch (beim Kind). Vorgelesen, reingekuschelt, und dann: Licht aus. Es war seltsam, denn es blieb still hinter der Zimmertür. Ich schlich zurück zum Terrassentisch, an dem die Gäste warteten. Wir lauschten. Es blieb still. Wir äußerten unser Erstaunen. Es blieb still. Wir wagten es, die Unterhaltung wieder aufzunehmen. Es wurde laut.

Ein Schrei aus tiefstem Herzen, der mühelos den Kuscheltierberg überwand, die geschlossene Zimmertür durchstieß, die Treppe hinabbrauste, die Scheiben klirren und die Weingläser auf dem Tisch sowie die Nachbarn auf den Stühlen erzittern ließ.

"SCHNUUUUUUUHUUUUULLEEEER!!!!"

War ja klar. Auch, dass sie nicht mehr aufhörte.

Wir wechselten uns ab: Mal redete der Vater, mal die Mutter mit Engelszungen auf das schreiende, gar nicht mehr so große Kind ein, während der andere versuchte, weiterhin ein guter Gastgeber zu sein für die Nachbarn, die sich tapfer schlugen. Nur wenn die Schreie besonders laut wurden, warfen sie erst sich, dann demjenigen von uns, der gerade bei ihnen saß, besorgte Blicke zu. "Sollen wir lieber gehen?", fragten sie höflich.

Doch noch gaben wir nicht auf, wedelten mit der bunten Kaffeekanne vor dem schluchzenden Kind herum ("Will aber meinen Schnuuuuller!") und waren uns einig: Wenn wir jetzt nachgaben, würden wir noch zur Einschulung am Morgen vollgesabberte Schnuller auskochen.

Als wir uns auch auf der Terrasse nicht mehr verständigen konnten, ohne laut zu werden, gingen die Gäste doch, voller Verständnis und mit guten Wünschen für uns und das Kind. Wie lange das Drama dauerte, nämlich bis kurz vor Mitternacht, bekamen sie trotzdem mit. Wie gesagt, sie wohnten in der Nachbarschaft.

Dann, endlich, schlief das schnullerlose Kind mit tränennassen Wangen ein, jedes Einatmen ein zittriges Schluchzen. Wir räumten die Überreste eines fast geselligen Abends weg und weinten vor Erschöpfung auch ein wenig in die Kissen.

Im Morgengrauen stand ein strahlendes Kind an unserem Bett, stolz auf sich und seine Entscheidung und voller Vorfreude auf die Belohnung: "Ich habe doch gesagt, ich kann ohne Schnuller schlafen!"

Wie der Abschied vom Schnuller etwas leichter wird, erklärt die Kinderärztin Ursula Keicher.

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