Süddeutsche Zeitung

Kinder - der ganz normale Wahnsinn:Endlich Schule

Auf den ersten Schultag freuen sich die Kinder seit langem. Nur dass die Erwachsenen immer vom Ernst des Lebens reden, gibt ihnen zu denken. Ist es endlich so weit, haben die Erstklässler aber ganz andere Probleme.

Katja Schnitzler

Schulkinder, das waren bislang immer die anderen. Mittags marschierten sie am Kindergarten vorbei und machten kurz Halt, um ein hämisches "Hallo, ihr Kindergartenbabys!" über den Zaun zu rufen. Weil den "Kindergartenbabys" keine Antwort einfiel, flüchteten sie aufs Klettergerüst, schielten von dort aus nach den Schulranzen der Älteren und überlegten, ob sie später einen mit Wölfen oder Dinosauriern (Jungen) wählen sollten oder einen mit Pferden oder Feen (Mädchen).

Beim Aussuchen im Tornistergroßhandel hüpften die Bald-nicht-mehr-Vorschulkinder dann vergnügt von Ranzen zu Ranzen. Schließlich verließ die Familie den Laden mit einem weißen Pony auf einer blauen Schultasche. Für den Preis hätten die Eltern auch ein echtes Pferd kaufen können.

Immerhin, die Schultüten waren selbst gebastelt, an einem Abend von den Vorschuleltern im Kindergarten. Nach zwei Stunden auf winzigen Stühlen an winzigen Tischen wurden die bunten Kunstwerke nach Hause getragen. Von stolzen Eltern mit schmerzenden Knien und gebeugtem Rücken, mit Glitzerstaub im Gesicht, in den Haaren, an der Bluse und unter den Fingernägeln.

Nun war alles bereit für den großen Tag, auf den sich das Kind uneingeschränkt gefreut hatte - bis es den Fehler machte, seine Vorfreude mit Bekannten und Verwandten zu teilen. Und feststellte: Da schwingt so ein Unterton mit, so ein seltsamer, wenn die Erwachsenen sagten, "Ja, ja, jetzt beginnt der Ernst des Lebens". Dabei dachten sie an den stets schlecht gelaunten Lehrer Kurt H., der immer mit seinem Schlüsselbund warf - er zielte gut und traf noch besser. Und an den eigenen ersten Schultag.

Damals, vor vielen Jahren, hatten sie sich so auf die versprochene Lehrerin gefreut, saßen erwartungsvoll in der Schulbank: War es vielleicht diese Frau, oder jene, die sah doch auch nett aus? Bis ein Zwei-Meter-Mann mit breiten Schultern das Zimmer betrat, sich ans Pult stellte und mit tiefer Stimme verkündete: "Mein Name ist Schneider, Frau Schneider. Ich bin eure Lehrerin." Damit begann der Ernst des Lebens.

Nun stand also wieder ein erster Schultag bevor. Am Morgen machte die Familie vor der Haustür noch einige Erinnerungsfotos, auf denen die Schultüte mal das eine, mal das andere Gesicht verdeckte. Dann setzte sich die Karawane in Gang: Vorweg der stolze Erstklässler, endlich mit Schulranzen auf dem Rücken, schritt er an seinem alten Kindergarten besonders gemächlich vorbei. Dahinter die stolzen Eltern, gefolgt von Omas, Opas, Tanten, Onkel, Paten.

Je näher die Schule kam, desto langsamer wurde das Kind. Erst fiel es bis zu den Eltern zurück, dann suchte es die Hand der Großmutter. Da wartete er also, der Ernst des Lebens. Und 99 andere Erstklässler.

In der viel zu kleinen Aula hatten die Lehrer hundert Stühle in engen Reihen aufgestellt, dahinter drängten sich in noch engeren Reihen die Mütter, Väter, Omas, Opas, Tanten, Onkel, Paten, die Fotokameras hoch in der Luft. Sie drückten und rangelten, schon wieder versperrte ein Neuankömmling den Blick aufs eigene Kind, ja, was soll denn das, das gibt es doch nicht, also so geht das ja nicht, hören Sie mal, ja schauen Sie sich doch mal um, jeder hat hier ein Kind sitzen ...

Während die Erwachsenen um die knappe Ressource "Platz mit Blick auf Schüler" stritten, erhielten die Erstklässler eine erste Lektion: Wie schafft man es, mit dem riesigen Ranzen auf dem Rücken und der Schultüte im Arm zum letzten freien Platz in der Mitte der Stuhlreihen zu kommen? Und dabei über die abgestellten Ranzen zu steigen, den eigenen mit nur einer Hand abzunehmen, ohne die Schultüte fallen zu lassen? Und dabei anderen Kindern weder Ranzen noch Tüte über den Kopf zu ziehen?

Gar nicht.

Dann, endlich, saßen sie alle. Die vorherrschende Gesichtsfarbe: durchscheinend, fast geisterhaft. Von den Worten des Rektors, von den Liedern der Zweitklässler und von der Begrüßung durch die Lehrer dürften die Kinder noch weniger mitbekommen haben als die Eltern, die sich noch immer unauffällig in eine bessere Position zum Fotografieren schieben wollten, während die Umstehenden entschlossen dagegenhielten.

Schließlich durften die Kinder in ihre Klassenzimmer. Zittrig erhoben sie sich von ihren Stühlen, packten erst die kostbaren Schultüten, stellten fest, dass sie so nicht mehr den Ranzen auf den Rücken bekamen, legten ab, zogen, zerrten, stießen dabei andere. Hundert kalkweiße Kinder verteilten sich auf vier Klassenzimmer, dort auf 25 Stühle, Schultüten wieder ablegen, Ranzen wieder runter. Die Eltern schoben, drängten und fotografierten. Bis sie gehen mussten.

Dann waren sie allein. Die Eltern draußen, die Kinder drinnen. Nach einer Stunde, in der die Eltern nichts zu fotografieren hatten, öffnete sich die Tür zum Klassenzimmer. Heraus kamen, brav in Zweierreihen: 25 Kinder, strahlend, die Backen wieder rot.

Es hatte sich herausgestellt, der Ernst des Lebens war doch nicht so schlimm wie gedacht. Jedenfalls nicht am ersten Tag.

Wie können Eltern ihren Kindern nicht nur den ersten Schultag, sondern die Eingewöhnung in die Klasse und in das System Schule erleichtern? Schulpsychologe Stefan Brandt gibt Tipps und erklärt, was bei Problemen zu tun ist, die manchmal die ganze Schulkarriere gefährden können.

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