Süddeutsche Zeitung

150 Jahre Kaugummi:In aller Munde

US-Soldaten brachten nach dem Krieg das "Tschuing Gamm" nach Deutschland. Manche kauen für die Zahnpflege, andere aus Stress - so wie der frühere FC-Bayern-Trainer Carlo Ancelotti, der 14 Streifen pro Spiel verbrauchte.

Von Ulrike Heidenreich

Carlo Ancelotti, der ehemalige Trainer des FC Bayern, hat einmal nachgerechnet, dass er pro Fußballspiel etwa 14 Streifen Kaugummi verbraucht. Bei ihm mag das gegen die Nervosität helfen, für Fernsehzuschauer wirkt sein ständig malmendes Gebiss in Nahaufnahme jedoch irritierend.

Ein kleiner Teil des Umsatzes der Kaugummi-Industrie - in Deutschland sind es etwa 560 Millionen Euro im Jahr - stammt also von Ancelotti. Die Arbeiter, die in den Fabriken synthetischen Gummi wie Polyvinylether zu geschmeidigen Streifen und Drops zusammenrühren, sind jedoch einem anderen zu Dank verpflichtet: Amos Tyler aus Ohio, der am 27. Juli vor 150 Jahren das erste Kaugummi-Patent zugesprochen bekam.

Im Jahr 1869 war Tyler mit seiner Rezeptur für eine "verbesserte Kaugummi-Verbindung" zum Patentamt gegangen. Die Kau-Knete hatte ursprünglich ein General aus Mexiko in die USA gebracht, in seinem Gepäck war ein Brocken Chicle, das ist der eingedickte Milchsaft des Sapotillbaums. Später verfeinerten verschiedene Erfinder die klebrige Masse mit Minze oder Tolubalsam.

In Charles Panatis "Universalgeschichte der ganz gewöhnlichen Dinge" erfährt der Gummi diese Würdigung: "Kaugummi bewirkt aufgrund der Betätigung der Kiefermuskeln eine Lockerung der Gesichtsspannung, was wiederum zu einem allgemeinen Gefühl der Entspannung führen kann." So ist es wohl auch zu erklären, dass schon in Zeiten, in denen der Überlebenskampf härter war, die Menschen auf allem herumkauten, was von der Konsistenz her irgendwie passte: In der Steinzeit zum Beispiel Harze, in Schweden vor 9000 Jahren Birkenpech. So alt war der unansehnliche Klumpen, den Archäologen dort als angeblich ältesten Kaugummi der Welt aus der Erde pfriemelten.

Unansehnlich - das sind die Hinterlassenschaften auch heute. Weil Straßenreiniger sich durchschnittlich zwei Minuten mit dem Dampfdruckreiniger abquälen, bis ein Kaugummi vom Gehweg gelöst ist, werden die Städte aktiv. Ein neuer Bußgeldkatalog in Baden-Württemberg sieht bis zu 250 Euro Strafe für dieses unsachgemäße Entsorgen von "Müll in kleiner Menge" vor. In Düsseldorf oder Dresden sind zehn Euro Bußgeld fällig, in München und Hamburg 55 Euro.

Stolze 300 Euro muss zahlen, wer in Singapur beim Wegwerfen eines Chewing Gums erwischt wird. Überhaupt ist deren Verkauf im Stadtstaat aus ästhetischen Gründen seit 1992 verboten, mit einer Ausnahme: Apotheken dürfen zu medizinischen Zwecken zuckerfreie Drops zur Zahnpflege und Nikotin-Kaugummis anbieten.

Seitdem die GIs nach dem Krieg das "Tschuing Gamm" nach Deutschland brachten, wurde viel geforscht über den möglichen medizinischen Segen desselben. Mal sollte er die Blutzufuhr im Gehirn verbessern, den Herzschlag erhöhen, mal wie eine Art Mund-Yoga wirken. Australische Forscher ließen Probanden Kaugummi kauen oder einfach nur rhythmisch die Kiefer bewegen. Weil jeweils die Konzentrationsfähigkeit stieg, schlossen die Forscher, allein das Kauen sei der Schlüssel dafür. Ob man nun also Luft oder einen Kaugummi kaut, ist letztendlich egal.

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Quelle:
SZ vom 27.07.2019
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