Süddeutsche Zeitung

Karneval:"Im Karneval tritt die Unterordnung der Frau zutage"

Der Ausnahmezustand ist sozial erwünscht - die Herabwürdigung der Frau nicht. Dennoch treten beide Phänomene in der Fastnachtszeit gemeinsam auf. Eine Soziologin erklärt, warum.

Interview von Violetta Simon

Gegen eine vorübergehende kollektive Enthemmtheit hat Yvonne Niekrenz nichts einzuwenden, im Gegenteil: Die Soziologin von der Universität Rostock hat über den rheinischen Straßenkarneval promoviert und kennt die reinigende Wirkung solcher Rituale. Allerdings werden im Karneval nicht nur soziale Normen bewusst über den Haufen geworfen, sondern häufig auch das, was man in Sachen Gleichberechtigung bereits erreicht zu haben glaubt. Im Gespräch mit der SZ erklärt die 38-Jährige, wie das geht: exzessorientierte Geselligkeit, Sexismus und "Metoo"-Debatte in ein und derselben Veranstaltung.

SZ: Der Mensch braucht hin und wieder den Ausnahmezustand, heißt es. Können Sie erklären, warum?

Yvonne Niekrenz: Der Exzess erfüllt eine wichtige soziale Funktion. Indem man Normen außer Kraft setzt und Konventionen überschreitet, kann sich etwas entladen, das normalerweise gedeckelt wird. So gesehen ist er Ventil und Reinigungsritual zugleich: einmal alles auskehren, um im Alltag wieder funktionieren zu können. Außerdem lässt der kollektive Regelverstoß ein Wir-Gefühl entstehen und gibt uns eine Vorstellung davon, was Gemeinschaft außerhalb der Familie sein kann. Gerade in den exzessiven Phasen wird dieses Gefühl - ähnlich wie beim Fußball, wenn etwa Köln gegen Düsseldorf spielt - wiederbelebt.

Wie schmal ist der Grat zwischen fröhlich und enthemmt, zwischen Spaß und Entgleisung?

Sehr schmal. Enthemmung funktioniert, solange der Unterschied zwischen Alltag und Ausnahmesituation klar ist und sie keine Straftatbestände erfüllt. Das ist etwa der Fall, wenn sich alle duzen und miteinander schunkeln, selbst wenn sie normalerweise in der U-Bahn lieber Abstand halten. Oder wenn Leute morgens um elf schon die erste Flasche Prosecco auf der Straße köpfen, obwohl sie sonst keinen Alkohol im öffentlichen Raum trinken. Die Regeln des Alltags werden nicht infrage gestellt, nur vorübergehend ausgesetzt. Man erkennt sie an, indem man sie bewusst überschreitet und danach zu ihnen zurückkehrt. Das ist nicht nur beim Karneval so. Bei Musikfestivals vernachlässigen auch alle ihre Körperhygiene, schlafen zu wenig, trinken zu viel. Zu Hause gelten dann wieder die Konventionen.

Braucht der Exzess in Zeiten von "Metoo" neue Regeln?

Eher ein neues Bewusstsein. Jedem muss klar sein, wo das Kompliment aufhört und eine Anzüglichkeit beginnt.

Was macht es mit einer Gesellschaft, wenn Einzelne oder Gruppen dennoch bewusst Grenzen übertreten?

Sie wird einer Prüfung unterzogen und sie wird herausgefordert, die geltenden Regeln wieder durchzusetzen. Bei solchen Übertretungen geht es meist um Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaft, sie manifestieren sich gerade im unkorrekten Handeln Frauen gegenüber. Im Alltag orientiert man sich ja mittlerweile weitgehend an den geltenden Konventionen, sprich: Geschlechtergleichheit. Im Karneval jedoch tritt die Unterordnung der Frau wieder zutage.

Dann ist Sexismus Teil des Karnevals?

Er ist fest in den Karneval eingewoben, das zeigt sich an den starren Geschlechterrollen: In den traditionellen Vereinen werden repräsentative Posten wie zum Beispiel der Elferrat nahezu ausschließlich von Männern besetzt. Frauen sind dann etwa als Marketenderinnen zugelassen, die die Gruppe mit Getränken versorgen. Oder als Tanzmariechen, die bei Auftritten in die Luft geworfen werden. Auch die Büttenreden sind männlich dominiert: Frauen schwingen auf der Bühne höchstens als dekoratives Beiwerk die Beine. Es sind Männer, die einem die Welt erklären, die Inhalte sind bisweilen offen sexistisch und rassistisch. Da scheint einiges erlaubt zu sein, was sonst nicht politisch korrekt ist - und dann noch zur Hauptsendezeit in den Öffentlich-Rechtlichen.

Und an Weiberfastnacht, wenn die Frauen das Rathaus stürmen und den Männern mit der Schere an den Kragen gehen?

Da tun wir mal so, als hätten Frauen für einen Tag symbolisch die Macht - was ja ein Witz ist.

Interview am Morgen

Diese Interview-Reihe widmet sich aktuellen Themen und erscheint von Montag bis Freitag spätestens um 7.30 Uhr auf SZ.de. Alle Interviews hier.

Hat sich denn durch die "Metoo"-Debatte nichts verändert?

Was "Metoo" geschafft hat, ist eine stärkere Sensibilisierung. Die Bewegung hat gezeigt, welche Macht soziale Medien entwickeln können. Sie hat Diskurse angestoßen und viele Menschen haben sich auf den Diskurs eingelassen. Auch im Karneval sind soziale Medien präsent. Wenn Leute das Geschehen mit ihren Smartphones dokumentieren, ist das ebenfalls eine Möglichkeit, auf Sexismen aufmerksam zu machen. Und die Leute womöglich bereits in dem Moment zum Nachdenken zu bewegen. Während es bei der "Aufschrei"-Debatte noch um die Frage ging, ob man Funkenmariechen unter den Rock schauen darf, ist "Metoo" der Aufschrei jener, die gegen die ungleichen Machtverhältnisse protestierten.

Muss eine Frau im sexy Krankenschwesterkostüm damit rechnen, nicht ernst genommen zu werden?

Jede Frau sollte tragen können, was sie möchte, wie sie sich wohlfühlt und als schön empfindet, ohne mit Reaktionen konfrontiert zu werden, die ihr zu weit gehen. Das gilt im Karneval ebenso wie im Alltag. Wir sollten begreifen, dass es weniger darum geht, Frauen zu schützen, sondern sie als gleichwertig zu akzeptieren: Körper gehören den Individuen und die entscheiden, ob sie angefasst oder beurteilt werden wollen.

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