Karen Duve über:Gutmenschen

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Die Schriftstellerin wartet bereits am großen Gemeinschaftstisch in der freundlichen Küche ihres Berliner Verlages. Sie redet sich in Fahrt, mal mahnend, oft lachend.

Interview von Marten Rolff

SZ: Frau Duve, beginnen wir mit Ihrer Kurz-Anamnese des Planeten: Erderwärmung, Sintflut und Klimastürme, Seuchen, Genmanipulation, Nahrungsmittelknappheit, Jugendwahn, Generationen- und Geschlechterkampf, angeheizt durch Endzeit-Sekten, klerikale Ultras, militante Tierschützer, Nazi-Rocker und islamistische Fundamentalisten. Habe ich irgendeine Bedrohung vergessen?

Karen Duve: Mmhh, dass wir auch sterben müssen, wenn uns das alles nicht den Rest geben sollte. Das wird ja gern verdrängt.

All diese Themen berühren Sie in ihrem neuen Roman "Macht", der im düsteren Hamburg des Jahres 2031 spielt, fünf Jahre vor dem Weltuntergang. Auf ein Urteil werden sich alle schon mal einigen können: Ausgelassen hat sie nichts.

Klimazirkus, Genraps, Verjüngungspillen oder Sekten waren eher die Deko. Ich wollte vor allem drei Hauptideen miteinander verbinden: Eine Geschichte, die in der nahen Zukunft spielt. Dazu den Gedanken, dass früher alles besser war. Der treibt uns ja alle um, weil man eben damals jung und das Leben intensiv war. Und drittens den Fall des Österreichers Josef Fritzl, der seine Tochter und später auch deren Kinder über Jahrzehnte gefangen hielt.

Dazu muss man wissen, dass Ihr Ich-Erzähler ein enttäuschter Alt-Öko ist. . .

. . .die Sorte Aktivist, die frustriert darüber ist, dass all ihre Bemühungen nicht hinreichend gewürdigt werden.

Als Ausgleich hat er seine in der Politik erfolgreiche Ex-Frau im Keller angekettet, wo er sie regelmäßig missbraucht.

Am Fall Fritzl interessierte mich, warum jemand so etwas tut, lässt man mal beiseite, dass der Mann irre ist. Die Antwort ist womöglich: weil er es kann. Weitergefragt: Was macht es mit uns, wenn sich die allgemeine Ordnung auflöst? Im Roman wird der Staatsfeminismus ausgerufen, da man hofft, dass die Frauen die Menschheit mäßigen und so den Klimawandel hinauszögern. Der Protagonist sagt: Mein Leben lang habe ich Gutes getan, mich eingesetzt und wofür? In fünf Jahren geht die Welt unter, und nun soll ich mich dem Egotrip meiner Ex-Frau unterordnen? Sollen andere Idioten verzichten, ich will noch mal leben. Warum jetzt noch jemandem den Vortritt lassen, der eigentlich schwächer ist als ich?

Aus Menschlichkeit?

Noch erscheint uns dies als Motiv selbstverständlich. Weil wir in einer luxuriösen Ausnahmezeit leben. Aber Werte wie Freiheit, Gleichheit oder Fairness können jederzeit infrage gestellt werden. Es geht ja im Moment darum, ob unsere sehr liberale und demokratische Gesellschaft womöglich nur eine Schönwettergesellschaft ist. Ob wir nur anständig zueinander sind, solange es uns nicht allzu viel kostet.

Stimmt der Eindruck, dass der Humorteil des berühmten Duve-Sarkasmus' zuletzt etwas unter die Räder geraten ist?

Ich behandle meine Themen härter als früher. Aber wenn Sie damit fragen wollen, ob ich verbittert bin: gar nicht. Es ist ein Roman. Und die Aussicht auf den Weltuntergang gibt einem eine gewisse Leichtigkeit.

Viele Ergebnisse Ihrer Buch-Recherche, die Studien zu Klimawandel und Ausbeutung, haben Sie in einen Essayband ausgelagert. Darin machen Sie für Raubbau, Krisen und Elend auch gleich die Schuldigen aus: die Alphamänner und ihre unstillbare Gier.

Stimmt. In unserem Alltag hinterfragen wir gar nicht mehr, dass die Ideale, die unser Leben bestimmen, fast durchweg von besonders ehrgeizigen und durchsetzungsfähigen Männern vorgegeben werden. Erfolgreich ist, wer nicht von Skrupeln geplagt wird und in der moralischen Grauzone agiert. Volkswagen ist da nur ein Beispiel: Solange am Ende die Kasse stimmt, blasen wir eben ein wenig mehr Dreck in die Luft als erlaubt. Merkt schon keiner! Da geht Status, Gier und Machtanspruch gern vor Verantwortung und Sachkompetenz.

Die Vorstandsetage einer Bank, sagen Sie, atme exakt dieselbe Atmosphäre wie ein Zuhältertreffen auf St. Pauli. Das klingt natürlich extrem lustig. Aber eben auch extrem übertrieben.

So habe ich es erlebt, als ich mal einen von einer Bank verliehenen Literaturpreis gewann. Ich habe dort gelesen und dachte in meiner grenzenlosen Naivität: Da muss man sich doch als Autorin mal bei den Gastgebern vorstellen und bedanken. Dabei bin ich in einen Raum mit Topmanagern geraten. 20 Silberrücken, die sich zur Tür drehen - und eine Reaktion!

Die haben Sie runtergeputzt?

Quälend freundlich waren die: "Jaaa, wie neetttt, Frauuu Duuuveeee." Wie Vampire, wenn die im Film noch so tun müssen, als wären sie keine. In Wirklichkeit meinten die natürlich: Ey Mädchen, hier geht es um Milliarden, und du denkst, uns interessiert dein Büchlein. Solche Situationen sind so, als würde einem das Testosteron in der Luft den Atem rauben. Es muss übrigens keine Bank sein. Männlich dominierte Ökogruppen oder politische Parteien funktionieren nach demselben Muster.

Als Frau sind Sie damit moralisch natürlich fein raus. Glauben Sie im Ernst, dass Frauen die besseren Menschen sind?

Individuell betrachtet ist gut sein natürlich eine Frage des Charakters und nicht des Geschlechts. Es gibt Frauen, die in Machtpositionen schlimmer als die übelsten männlichen Chefs agieren. Und das Gros der Männer ist sicher sozial und an Werten orientiert. Trotzdem wüsste ich gern, wieso ein bestimmter Typus Extrem-Mann in nahezu jedem Gesellschaftssystem die Regeln festlegen darf, obwohl er im Grunde verhaltensauffällig und seine Bilanz verheerend ist. Was zwingt uns zum Beispiel dazu, hurra zu schreien, nur weil ein paar zweifelhafte Überperformer ohne Privatleben die 70-Stunden-Woche für Manager ausrufen? Zudem halte ich es für wahrscheinlich, dass Frauen eher in der Lage sind, ethische Grenzen zu achten und nachhaltig zu wirtschaften. Womöglich wird sich der Homo sapiens als Sackgasse der Evolution erweisen, weil er trotz aller Intelligenz einfach zu aggressiv ist. Ein Auslaufmodell.

Wie weit ist es bei solchen Überlegungen vom Populismus zum Biologismus?

Das ist ein Totschlagargument. Forschung ist immer wieder missbraucht worden, um damit die Unterdrückung Schwächerer zu legitimieren. Deshalb muss man ihr kritisch begegnen. Aber das heißt doch nicht, alle Ergebnisse der Neurologie oder der Verhaltenspsychologie zu ignorieren.

Für diese Vermutungen warf man Ihnen "Stammtisch-Denken nach dem vierten Bier" und "Menschenhass" vor.

Ich wette, das kommt von einem Mann.

Nö, das hat eine klug argumentierende Frau in der FAZ geschrieben.

Also, ich fühle mich nüchtern. Mit dem Vorwurf des Menschenhasses könnte ich mich anfreunden. Im Ernst: Für das Ökosystem der Erde ist der Mensch ja durchaus eine massive Bedrohung; unangenehm wie alles, was in Massen auftritt. Das hat aber keinen Einfluss darauf, dass ich den Einzelnen oft als reizend und liebenswert erlebe.

Hilfsbereitschaft und Achtsamkeit haben es vor dem Hintergrund der Flüchtlingsdebatte immer schwerer. "Gutmensch" ist das neue Unwort des Jahres. Auch weil es unerträglich wirkt, dass ein Begriff, der etwas Wünschenswertes bezeichnen müsste, nur diffamierend gebraucht wird. Ist es so schlimm?

Ich glaube, dass wir auf unsere Offenheit des letzten Jahres noch mal sehr stolz sein werden, was auch immer jetzt von den guten Absichten noch übrig bleiben wird. Stolz darauf, dass wir Menschen im Moment der Not herzlich aufgenommen haben. Da hat vielleicht Naivität mitgespielt. Aber das ändert nichts daran, im entscheidenden Moment das Richtige getan zu haben. Ich hätte nie erwartet, dass ich mich mal für eine Unions-Politikerin erwärme. Aber Angela Merkel hat ihre ethischen Überzeugungen über jedes politische Kalkül gestellt. Davor ziehe ich den Hut.

Nun könnte das Merkel ihre Macht kosten. Ist der "gute Mensch" oft selber schuld? Provoziert er das Mobbing, weil er an den Realitäten vorbei handelt und sich moralisch für etwas Besseres hält?

So möchten es die Egoisten gern sehen, um selber besser dazustehen. Klar gibt es auch eitle Nervensägen, die demonstrativ mildtätig sind und so ein idealistisches Umfeld ausnutzen. Andere bringen dafür Licht in das moralisch hoffnungsloseste Milieu.

Zum Beispiel?

Als Taxifahrerin habe ich manchmal einen Hamburger Promi ins Bordell gefahren. An einen Ort also, der für Demütigungen prädestiniert ist. Doch diesem Mann ist es gelungen, das Bordell allein durch seine nette Art in eine Insel vergnügter Zufriedenheit zu verwandeln. Alle Frauen haben von ihm geschwärmt! Natürlich auch, weil er großzügig war. Bei einer Ayurveda-Kur habe ich hingegen mal eine Helferin von Mutter Teresa kennengelernt. Die war charakterlich so mies, dass sie Menschen durch ihre bloße Anwesenheit brechen konnte. Ich würde lieber im Rinnstein von Kalkutta enden, als mich von der pflegen zu lassen!

Ihre letzten drei Bücher tangieren moralische Kernfragen. Im Zuge Ihrer Recherchen haben Sie Ihr Leben umgestellt. Sind Sie ein besserer Mensch, weil Sie zum Beispiel kein Fleisch mehr essen?

Ich richte zumindest beim Essen weniger Schaden an. Ich gebe mir Mühe. Davon abgesehen steht mir die Klub-Karte für Vegetarier oder Veganer gar nicht zu, weil ich als charakterloser Schweinehund alle paar Monate einen Rappel kriege und Fisch esse. Die richtigen Veganer, die ich kenne, sind völlig anders als ich.

Inwiefern?

Die befinden die sich moralisch auf einem ganz anderen Level. Was mich auch beschämt. Die arbeiten meist in sozialen Berufen, kümmern sich also auch noch um Menschen und sind überhaupt viel empathischer als ich. Im Gegensatz zu den Verhaltensauffälligen der Szene sind sie übrigens ganz unideologisch. Und sie geben keinem das Gefühl, ihm überlegen zu sein. Als ich mit denen nachts für eine Recherche in eine Hühnerfarm einbrach, war ich auf angeberische Besserwisser gefasst. Falsch. Die waren authentisch. Erst durch solche Menschen als Katalysator habe ich das Leid der Tiere vollständig begriffen.

Wie kommt es eigentlich, dass man als Journalist relativ unbeschadet über die Mafia schreiben kann, aber nur ein harmloses Kolumnen-Witzchen über Veganer und man kriegt Drohbriefe?

Ein Frutarier hat sich sogar mal bei mir beschwert, weil ich Bäume in meinem eigenen Garten abgehackt habe. Es gibt sie also, die Irren, aber ihr Kreis ist kleiner, als man denkt. Und einige von ihnen möchte ich auch in Schutz nehmen.

Warum?

Die Verdränger finde ich im Grunde viel schlimmer. Wer - zumal als junger Tierschützer - mal gesehen hat, wie man ein Rind an den Beinen hochzieht, wie es noch zappelt und brüllt, während man es schlachtet, der wird das lange nicht los. Am nächsten Tag darf man sich beim Familienessen anhören: Wir haben hier total super Fleisch, ich hoffe das stört dich nicht. Für die Verdränger ist das alles ein Riesenwitz.

Wie lange klappt Verdrängung? Es gibt ja durchaus gesellschaftlichen Wandel.

Der Mensch lernt dort schneller, wo es ihn nichts kostet. Oder wenn der Schaden bereits eingetreten ist. Eigentlich nicht mal dann: Ein Drittel des Great Barrier Reef ist kaputt. Wann ist es Zeit umzudenken? Bei der Hälfte? Oder doch erst, wenn wir zum Edeka robben müssen, weil Klimastürme uns den aufrechten Gang verbieten?

Missionieren Sie bei Freunden und Familie? Sprechen Sie da über Ihre Meinung zu Klimawandel oder Tierschutz?

Mein Bruder arbeitet für einen Mineralöl-Konzern, mein Schwager ist Landwirtschaftsminister. Also sparen wir all diese Themen bei Familientreffen gern aus. Und wenn ich mit anderen Leuten Essen gehe, dann kommentiere ich deren Steaks grundsätzlich nicht. Warum auch? Trotzdem bereite ich denen offenbar durch meine bloße Anwesenheit schon so viel Stress, dass die fast immer auf Fleisch verzichten.

Ist das nicht unangenehm?

Was mich viel mehr auslaugt, sind Leute, die wider besseres Wissen handeln und mich dann damit behelligen, um sich noch die Absolution zu holen.

Zum Beispiel?

Manche sprechen mich nach Lesungen an: "Ach Frau Duve, Sie haben so recht! Furchtbar das mit dem Klimawandel! Und all das Tierleid. Aber ich persönlich muss leider Fleisch essen, weil ich Blutgruppe null, Rhesusfaktor negativ habe. Ohne Fleisch werde ich so schnell ohnmächtig."

In Geschichten über Sie wirkt Ihr Haus in Brandenburg wie eine Art Gnadenhof. Sie halten sich sogar zwei Katzen, obwohl Sie eine starke Katzenhaarallergie haben. Ist das auch ein bisschen irre?

Die eine Katze war schon da als ich kam, die andere ist mir zugelaufen. Ich kann schwer nein sagen. Aber ich versuche gerade, alles zu reduzieren. Ich arbeite mittlerweile sechs Stunden täglich draußen wie ein Knecht, das ist zu viel. Gerade habe ich meine Kuh anderswo untergebracht.

Ihre Kuh?

Eigentlich wollte ich ein Pferd kaufen. Zur Freude, nicht um es zu retten. Das stand aber mit einer Kuh auf der Weide, die dann geschlachtet werden sollte. Also habe ich die mitgekauft. Bei mir wandte sich das Pferd aber meinen zwei anderen Pferden zu. Die haben die Kuh nun gemobbt. Im einzigen Kuh-Altersheim, das ich fand, sagte man mir, die Reise sei zu weit, eine so alte Kuh zu verpflanzen, eine Qual. Es hat gedauert, aber heute ist sie bei einer anderen Kuh in der Nähe untergebracht und glücklich. Was lehrt uns das? Gutmenschen nerven andere, aber vor allem sich selber.

Was ist für Sie ethisches Handeln?

Große Frage. Bestimmte Regeln sind, wie es so schön heißt, unveräußerlich: Sie sind absolut und weder an eine Situation gebunden noch nur auf bestimmte Gruppen anwendbar. Man darf Grenzen nicht verschieben, weil es gerade so passt. Wir alle sind damit zu inkonsequent. Aus Egoismus. Aus Bequemlichkeit. Aus Profitgier.

Es gibt da diesen verfänglichen Satz vom Ehrlichen, der am Ende der Dumme ist.

Ein ärgerliches Klischee und ein sehr dämliches dazu. Der Spruch lässt unberücksichtigt, dass "gut sein" auch dem, der gut ist, viel bringt. Unabhängig vom Ergebnis. Man tut sich einen Gefallen, wenn man ein Bewusstsein für klare ethische Grenzen hat. Das ist oft etwas anstrengender, aber kein Mangel. Im Gegenteil, selbst durch Verzicht gewinnen Sie: Klarheit, Seelenhygiene. Es ist eine Frage der Selbstachtung. Wer das begriffen hat, ist auch weniger auf den Applaus von anderen angewiesen.

Aber integeres Handeln scheint in einer immer komplexeren Welt schwerer zu werden. Nehmen wir an, Sie werden auf der Kölner Domplatte begrapscht und Rettung naht. Leider von einem Pegida-Trupp, der ihren Fall ausschlachten will.

Ich lasse mich retten, bedanke mich und distanziere mich von Tätern und Rettern. Klare Worte sind wichtig. Wenn sich einer unmöglich benimmt, muss man darüber reden. Es war fatal, dass die Polizei die Urheber der Kölner Übergriffe lange nicht benannt hat, aus Angst, die Öffentlichkeit zu überfordern und Rassismus zu schüren. Das hat die Stimmung viel mehr angeheizt.

Ethische Widersprüche gibt es überall. Sogar bei diesem Interview.

Ach, wieso das denn?

Die stiernackigen, frustrierten Männer in Ihrem Buch würden sagen: Krass, wie die Alte sich da als Klima-Kassandra und Mutter Teresa aufbläst. Dabei will die auch bloß ihr Buch verkloppen. Dafür lässt sie sogar den nützlichen Idioten von der Lügenpresse nach Berlin einfliege n. Die CO₂-Bilanz ist natürlich brutal.

Vertrackt, oder? So ist das leider mit den Radikalen: Etwas schwiemelige Restwahrheit schwingt mit. Offiziell muss ich Sie natürlich jetzt fragen: Herrje, Sie sind nicht mit der Bahn hier? Geflogen? Schlimm!

© SZ vom 13.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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