Kampf dem Übergewicht:Zutrauen statt Zumutung

Verbraucherschutzminister Seehofer hat dem Bundestag sein Programm für eine bessere Ernährung erläutert. Demnach setzt die Regierung auf "Beratung statt Bevormundung". Kritikern ist das jedoch viel zu wenig.

Horst Seehofer und Ulla Schmidt erwarten viel von den dicken Deutschen. Was allerdings nicht heißt, dass sie den Bürgern viel zumuten wollen, sondern viel zutrauen. Denn was der Verbraucherschutzminister von der CSU und die Gesundheitsministerin von der SPD in ihrem Fünf-Punkte-Aktionsplan hineingeschrieben haben, wird niemanden zwingen, sein Verhalten zu ändern.

Kampf dem Übergewicht: Horst Seehofer setzt auf die Verantwortung der mündigen Bürger.

Horst Seehofer setzt auf die Verantwortung der mündigen Bürger.

(Foto: Foto: Reuters)

Zwar seien Übergewicht und Fehlernährung eine der größten Herausforderungen der Gesundheitspolitik der kommenden Jahre, betonte der CSU-Politiker im Bundestag. Vorbeugung sei hier besonders wichtig.

Doch nicht Vorschriften und Verbote sollen dafür sorgen, dass der Hang zum Übergewicht gestoppt wird. Vielmehr hofft die Regierung, die fast 40 Millionen Übergewichtigen in Deutschland mit Hilfe des Fünf-Punkte-Aktionsplan dazu zu bewegen, als "mündige Verbraucher" freiwillig durch körperliche Aktivitäten und gesünderes Essen überflüssige Pfunde loszuwerden.

Aufklärung ohne erhobenen Zeigefinger wünscht sich Seehofer. Man könnte das Motto des Aktionsplans "Fit statt Fett" demnach getrost ersetzen durch "Selbst ist der Dicke".

Kritik an den Vorschlägen

Zwar wünschen sich die Minister, dass das Wohnumfeld der Deutschen in Zukunft so gestaltet wird, dass es genügend Bewegungsanreize schafft. "Dazu zählen abwechslungsreiche Spielplätze, sichere und reizvolle Fuß- und Fahrradwege, wohnortnahe Einkaufsmöglichkeiten und attraktive Parks", heißt es. Doch wer dafür zuständig ist, müssen Seehofer und Schmidt in den nächsten Monaten mit den Ländern, Kommunen und Verbänden erst noch besprechen.

Opposition, etliche Experten und Verbraucherschützer halten die bisher erkennbaren Vorschläge jedenfalls für zu unverbindlich. Gefordert seien nicht Sprechblasen, sondern konkrete Maßnahmen, heißt es.

Der Gesundheitsmanager Edmund Fröhlich von der Spessart-Klinik im hessischen Bad Orb etwa vermisst konkrete und nachprüfbare Ziele. Die Klinik ist auf Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen spezialisiert ist.

"Wenn dieser Plan vage bleibt, ist die Gefahr hoch, dass sich die Zahl der fettleibigen Kinder verdoppelt", erklärte Fröhlich. Er könne sich eine gesundheitliche Früherziehung vorstellen. Darüber hinaus aber "brauchen wir mehr verpflichtende Untersuchungen, damit wir gegensteuern können."

Auch der Ernährungswissenschaftler Udo Pollmer übte Kritik: "Die Politik reagiert reflexartig auf alles, was Applaus verspricht", sagte der wissenschaftliche Leiter des Europäischen Instituts für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften der Passauer Neuen Presse. "So ist es auch beim Thema Ernährung."

Vergebliche Versuche

Bislang hätten "alle Maßnahmen durch Kalorienverminderung, egal ob durch fettarmes Essen, durch Diäten oder durch Angst vor dem Teller das Übergewicht verstärkt", sagte Pollmer. Jeder Versuch, Essverhalten "über den Verstand kontrollieren zu wollen", sei "langfristig zum Scheitern verurteilt".

Dabei hatten sich die Wünsche der Ministerin Schmidt zuvor deutlich weiter gehender angehört, als sie und ihre Kabinettskollege Seehofer den Deutschen im Aktionsplan tatsächlich zumuten wollen.

So hatte die Ministerin erklärt, sie könne sich sogar ein Schulpflichtfach "Ernährung" vorstellen. Das aber fällt leider nicht in ihr Ressort - und von jenen, die darüber zu entscheiden haben, gibt es heftigen Widerstand. So erklärte Niedersachsens Kultusminister Bernd Busemann (CDU), mit zusätzlichen Fächern wie Ernährung und Medienkompetenz oder mehr Stunden etwa für Wirtschaft oder Sport könne das Schulpensum auf mehr als 40 Wochenstunden ansteigen: "Das sollten wir den Kindern und Jugendlichen nicht zumuten."

Brandenburgs Bildungsminister Holger Rupprecht (SPD) nannte ein Fach Ernährung sogar "völlig absurd". Das Thema Ernährung spiele im regulären Unterricht längst eine Rolle, dies sei mehr als ausreichend. Dieser Meinung schlossen sich alle zuständigen Länderministerien an.

Auch Forderungen nach einer Kennzeichnungspflicht für Lebensmittel, wie sie aus den Reihen der SPD und der Grünen kommen, hat Minister Seehofer bereits abgewehrt. Damit, so Seehofer, könnten Verbraucher den falschen Eindruck bekommen, bestimmte Produkte dürfe man gar nicht mehr kaufen. Kritiker werfen der Bundesregierung allerdings vor, sie wolle sich nur nicht mit der Ernährungsindustrie anlegen.

"Warum soll die Industrie schuld sein?"

Auf den Vorschlag der Verbraucherorganisation Food Watch, ein Werbeverbot für sogenannte Kinderlebensmittel mit zu viel Fett und Zucker auszusprechen, reagierte statt Seehofer dann gleich die Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie. Die begrüßte den Verzicht auf neue Vorschriften grundsätzlich. Vielmehr sei Eigenverantwortung gefragt. "Warum soll die Industrie schuld sein, wenn jemand zu viel isst?", fragte der BVE-Chef Jürgen Abraham.

Unabhängig von der Schuldfrage lohnt ein Blick nach Großbritannien. Dort gibt es seit Januar das sogenannte Ampel-System: Viele Lebensmittel sind dort mit Punkten gekennzeichnet: Grün steht für gesund, rot für besonders fett, besonders zuckrig oder besonders salzig, gelb liegt irgendwo dazwischen. Und viele Briten sind darüber offenbar ganz froh: Nach einem Bericht des britischen Senders BBC befürworten 80 Prozent der Eltern die neue Kennzeichnung.

Für aussichtslos hält die Regierung ihre auf Appelle und Eigenverantwortung gestützte Kampagne trotz aller Kritik nicht. Tatsächlich habe sich das Bewusstsein bereits verändert, meinte Seehofer. Und seine Kollegin Schmidt ergänzt, es seien doch deutlich mehr Menschen an Bewegung und Vorbeugung interessiert als noch vor fünf, sechs Jahren.

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