Kolumne: Vor Gericht:Das perfekte Verbrechen

Lesezeit: 2 Min.

Weder kurzer Rock noch Alkohol sind schuld an sexuellen Übergriffen. Gegen ihre Verharmlosung ging diese Frau bereits 2017 auf die Straße. (Foto: imago stock&people/Ralph Peters)

Bei kaum einem Delikt kann ein Täter so darauf vertrauen, straffrei auszugehen wie bei sexualisierter Gewalt. Wie ist das in einem Rechtsstaat möglich?

Von Verena Mayer

In Deutschland erhält jemand, der Schuld an einem Verbrechen hat, eine Strafe. So funktioniert der Rechtsstaat, darauf kann man vertrauen. Doch es gibt eine Ausnahme: sexualisierte Gewalt. Das wurde mir bewusst, als ich mich mit dem Sexualstrafrecht beschäftigte und in vielen Gerichtssälen saß, in denen Vergewaltigung angeklagt war.

In einem Prozess erzählte eine Frau, dass sie von ihrem Zahnarzt zu einem Date eingeladen worden war. Sie trafen sich in einer Bar, dort soll er ihr ein Schlafmittel in den Drink gemischt und sie danach in einem Hotel vergewaltigt haben. Die Frau konnte anhand einer Haarprobe nachweisen, dass das Medikament in ihrem Körper war. Der Mann wurde freigesprochen.

In einem Prozess war ein Mann aus der Organisierten Kriminalität angeklagt, der schon zahlreiche Gewaltdelikte begangen hatte. Er soll einer Frau erst vorgespielt haben, in sie verliebt zu sein, und sie dann zur Prostitution gezwungen haben. Als sie sich weigerte, für ihn zu arbeiten, soll er sie vergewaltigt haben. Der Mann wurde freigesprochen.

In einem Prozess warfen zwei minderjährige Mädchen einem Influencer vor, sie in sein Auto gelockt zu haben. Er wollte angeblich ein Video mit ihnen drehen. Nachdem sie eingestiegen waren, soll er sie missbraucht haben. Der Mann wurde freigesprochen.

Die Gründe für die Freisprüche waren immer unterschiedlich. Mal wurde im Zweifel für den Angeklagten entschieden, mal hatte das Opfer nicht vor Gericht aussagen wollen, mal glaubten die Richter, dass die sexuellen Handlungen einvernehmlich waren. Aber es blieb immer eine Erkenntnis: Männer, die wegen Vergewaltigung vor Gericht stehen, haben eine große Chance, straffrei davonzukommen.

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Diese drei Männer wurden immerhin angeklagt. Eine Staatsanwältin hat mir einmal erzählt, wie viele Verfahren sie schon im Vorfeld einstellen muss. Von hundert Anzeigen wegen Vergewaltigung, die jeden Monat auf ihrem Tisch landen, könne sie vielleicht ein Drittel vor Gericht bringen - und das seien die guten Monate. Der Grund dafür ist, dass die meisten Sexualverbrechen zwischen zwei Menschen passieren. Bei anderen Taten gibt es irgendwo Spuren oder ein Motiv, um einen Täter zu überführen, oder jemand hat etwas mitbekommen. Bei einer Vergewaltigung gibt es meist nur die Aussage der Frau. Und wenn auch nur Details davon unglaubwürdig oder nicht belegbar sind, muss der Angeklagte freigesprochen werden. Oder es wird erst gar nicht Anklage erhoben. So ist der Rechtsstaat.

Die Staatsanwältin sagte mir, dass man hier fast schon von einem perfekten Verbrechen sprechen müsste. Denn wenn das perfekte Verbrechen eines ist, für das man wahrscheinlich nicht bestraft wird, dann gehören Sexualstraftaten definitiv dazu. In einer Zeit, in der es immer mehr Frauen wagen, der Öffentlichkeit von Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt zu berichten, ist das eine bittere Erkenntnis.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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