Süddeutsche Zeitung

Kolumne: Vor Gericht:Guten Appetit!

Eine Studie hat ergeben, dass Urteile nach der Mittagspause milder ausfallen. Weil die Richter dann zufrieden und satt sind?

Von Verena Mayer

Der Richter, der sich von seinen Instinkten leiten lässt, ist ein beliebtes Motiv in der Literatur. Bei Kleist entscheidet Dorfrichter Adam über seinen eigenen Fall - der Krug, um den es in dem Stück geht, ist nämlich zerbrochen, als er zu einer jungen Frau ins Schlafzimmer wollte. Einen weiteren prominenten Auftritt hat ein willkürlicher Richter in Brechts "Kaukasischem Kreidekreis". Richter Azdak trinkt nicht nur viel, er fällt auch nur dann gerechte Urteile, wenn er dazu in Stimmung ist.

Möglicherweise ist die Fiktion an der Wirklichkeit näher dran, als man vermuten würde. Das will jedenfalls eine Studie herausgefunden haben, die 2011 von der israelischen Ben-Gurion-Universität und der New Yorker Columbia University veröffentlicht wurde. Wirtschaftspsychologen haben sich dafür mehr als tausend Urteile angesehen, die acht verschiedene Richter an zwei israelischen Gerichten gefällt haben. Die Richter mussten jeweils darüber entscheiden, ob jemand auf Bewährung freikommt.

Das Ergebnis: Je früher am Tag, desto freundlicher urteilten die Richter. Wurden zu Beginn eines Sitzungstages fast zwei Drittel der Anträge auf vorzeitige Haftentlassung angenommen, gab es im Lauf des Vormittags und Nachmittags immer mehr ablehnende Entscheidungen. Bis dann, kurz vor Dienstschluss, alle Gesuche abgeschmettert wurden.

Die Forschenden entdeckten dabei ein Muster: Sowohl nach einer Frühstückspause am Vormittag als auch nach dem Mittagessen war die Anzahl der angenommenen Anträge sehr hoch. Danach sank sie immer weiter gegen null. Der Schluss, den die Wissenschaft daraus zog: Je hungriger ein Richter ist, desto strenger urteilt er.

Er sei immer wieder überrascht, wenn die Forschung Effekte finde, die sie gar nicht finden will, sagte der Studienautor damals. "Als Sozialwissenschaftler begeistert einen das, aber als normaler Bürger will man das lieber gar nicht wissen." Justitia mag blind sein, wie sie urteilt, hängt aber auch davon ab, was sie zu Mittag hatte. Doch nichts wird so heiß gegessen, wie es in der Gerichtskantine gekocht wird. 2019 nahm sich die Juristenzeitung der Studie noch einmal an und beschäftigte sich vor allem mit der Bearbeitungsdauer der jeweiligen Fälle. Dabei fiel Folgendes auf: Richter hören vor der Mittagspause auf, über Anträge zu verhandeln, von denen sie glauben, dass diese ihre Pause hinauszögern würden. Das sind nämlich die komplizierten Fälle, die eine längere Begründung benötigen. Die Fälle, die ein Richter oder eine Richterin kurz vor der Pause oder dem Feierabend noch abarbeitet, sind die, bei denen klar ist, dass man sie sofort ablehnen kann. Was dann genau die Kurve aus der Studie ergibt.

Die Geschichte erzählt einmal mehr davon, dass sich Dinge, die zusammenhängen, nicht beeinflussen müssen. Und dass auch wissenschaftliche Studien von Vorurteilen geprägt sein können. Oder wie Kleists Dorfrichter Adam sagt: "Denn jeder trägt den leid'gen Stein zum Anstoß in sich selbst."

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