Junge Musiker:Durchgetaktet

Junge Musiker: Vier bis sechs Stunden täglich übt Tassilo Probst auf seiner Geige.

Vier bis sechs Stunden täglich übt Tassilo Probst auf seiner Geige.

(Foto: Arlet Ulfers)

Großes Talent ist eine Sache. Eine Solokarriere eine ganz andere. In der Musikwelt zählt nur Perfektion. Hochbegabten Kindern verlangt das viel ab - aber auch ihren Eltern.

Von Ekaterina Kel

Tassilo Probst klemmt die Geige zwischen Schulter und Kinn, holt Luft, sein Brustkorb hebt sich. Kurz bevor der Bogen die Saiten berührt, atmet er aus - so ist es am besten für den Ton. Es soll auch helfen, den Mund leicht aufzumachen. "Dann sind drei Muskeln weniger angespannt, und man hat eine bessere Haltung", sagt er. Sein Geigenlehrer hat ihm das beigebracht.

Tassilo Probst lebt in Emmering nahe München, ist gerade 16 Jahre alt geworden und auf dem besten Weg, ein professioneller Sologeiger zu werden. Seit er zehn Jahre alt ist, gewinnt er bei "Jugend musiziert"-Wettbewerben regelmäßig den ersten Preis. Jeder weitere erste Platz verspricht Aufmerksamkeit, Einladungen zu Konzerten, renommiertere Lehrer. Seit er 13 ist, bekommt er Privatunterricht und ist Jungstudent an der Münchner Musikhochschule. "Es ist für mich klar, was ich werden möchte: Solist oder Professor für Geige", sagt er.

Der beste Klang ist sein Ziel, natürlich. Deshalb übt er jeden Tag: in der Schulzeit mindestens drei Stunden, während der Ferien vier bis sechs. Das ist harte Arbeit. Er versuche, überall der Beste zu sein, sagt Tassilo Probst, nur so komme er ans Ziel.

Seine Mutter fährt ihn zum Geigenunterricht, er lernt auf der Rückbank für die nächste Klausur

Seine Mutter, Petra Probst, fährt ihn seit dem Kindergarten zum Geigenunterricht, zu Meisterklassen, zu Konzerten. Sie sitzt am Steuer, und ihr Sohn lernt auf der Rückbank für Klausuren - im nächsten Jahr steht das Abitur an. Für ihn ist das keine Doppelbelastung, sagt er, aber Priorität hat die Schule auch nicht. "Die Geige steht ganz klar im Vordergrund."

Die Mutter macht halbtags die Buchhaltung in der Kanzlei ihres Mannes. Das erlaubt ihr, Tassilo zu begleiten. Sie führt seinen Terminkalender, bringt die Noten in einem faltbaren Stoffkorb mit und nimmt das Spiel ihres Sohnes während des Unterrichts mit einem Diktiergerät auf, damit er es später noch einmal anhören kann. "Ich bin nur die Notenträgerin", sagt sie lachend. Aber sie weiß, dass es ein "großer finanzieller und zeitlicher Aufwand" ist - für die ganze Familie. Die Fahrten, der Unterricht, die CDs, die Noten, die Hotels bei Konzerten und Meisterkursen. Immer dabei ist ein schwarzer Geigenkoffer. Darin ist eine Violine, die sich Tassilo Probst beim Wettbewerb des Deutschen Musikinstrumentenfonds erspielt hat. Eine Grancino aus Privatbesitz, Baujahr 1690 in Mailand.

"Er war schon im Kindergarten anders als andere Kinder", sagt die Mutter. Als Tassilo noch Windeln trägt, spielt der Vater Geige, der ältere Bruder spielt ihm nach, mit viereinhalb will Tassilo auch mitspielen. Weil er das absolute Gehör hat, fällt ihm das Notenlernen leichter. Auch in anderen Bereichen des Lebens ist er begabter als andere: Mit fünf kann er im Hunderterraum rechnen. Die erste Klasse überspringt er. Als sie hören, ihr Sohn sei hochbegabt und brauche eine gezielte Förderung, müssen die Eltern schlucken. "Wir waren nicht darauf vorbereitet", sagt der Vater. Es gebe kein Patentrezept, sagt die Mutter. Also müsse man ständig gucken: Ist der Sohn zu viel gefordert oder zu wenig? Und auch die Eltern müssen sich die Frage stellen: Fördern sie ihr Kind - oder überfordern sie es?

0,01 Prozent

aller Menschen haben Schätzungen zufolge das absolute Gehör. Sie können die Höhe eines Tons sowie die Tonart ohne Bezugston benennen. Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass das absolute Gehör besonders bei Kindern, die früh mit Musik in Kontakt kommen, verbreitet ist, sowie bei Menschen, die tonale Sprachen wie Chinesisch sprechen. Auch genetische Faktoren spielen eine Rolle.

Kinder wie Tassilo Probst, die eine Sache überdurchschnittlich gut können und das schon viel früher als die meisten, erregen Aufsehen. Die einen sind von ihnen fasziniert, die anderen finden, dass jungen Talenten die unbeschwerte Kindheit entgehe, weil ihre ehrgeizigen Eltern eigene Träume über ihren begabten Nachwuchs auslebten.

"Es ist Leistungssport", sagt die Lehrerin

Das Bild der fordernden Helikoptereltern mag Petra Probst gar nicht. "Tassilo kann man nicht pushen. Entweder er macht es, weil er es will, oder er macht es gar nicht", sagt sie. "Uns ist wichtig, dass er nicht verheizt wird." Seine Konzertauftritte, das ist die Bedingung der Eltern, müssen mit der Schule vereinbar sein.

"Es ist Leistungssport", sagt Martina Bauer, eine der Leiterinnen der Jugendakademie für Hochbegabtenförderung an der Musikhochschule in München, an der Tassilo Probst seit zwei Jahren Jungstudent ist. Sie findet nicht, dass Kinder ihrer unbeschwerten Kindheit beraubt werden. "Wir bieten ihnen eine Spielwiese der anderen Art." Klar stünden bei vielen ihrer Jungstudenten ehrgeizige Eltern im Hintergrund. Aber auf dem Niveau, auf dem Tassilo Probst mittlerweile spielt, seien es die Kinder selbst, die vorwärts drängen.

Natürlich bauten Wettbewerbe und die Aussicht auf Preise Druck auf, sagt der 16-Jährige. Wer es weit bringen will, muss hart arbeiten. "Aber der größte Druck kommt von einem selber", sagt der Violinist. Dieser hohe Anspruch an sich selbst motiviere ihn aber auch, weiterzumachen. "Sonst wäre der große Anreiz zu spielen weg." Martina Bauer sagt: Die Liebe zur Musik verschmelze bei den Kindern, die sie lehrt, mit der Liebe zur Bestleistung.

Die Lust auf Leistung schreibt sich ins Gehirn

Bloß, wie schreibt sich Lust auf Leistung ins Gehirn? Der Neurobiologe und Initiator der Akademie für Potenzialentfaltung Gerald Hüther forscht auf diesem Gebiet. Ob ein Kind spielt, weil es irrsinnige Freude am Geigenspiel hat, oder weil es irrsinnige Freude daran hat, die Eltern zu erfreuen - das könne im Nachhinein keiner mehr sagen, sagt er. "Vielleicht geht den Kindern das Geigenspielen so unter die Haut, weil die Augen der Mutter so strahlen?"

Im Kindesalter formen positive Emotionen neuronale Wege im Gehirn, genauso wie die von früh auf eingeübten Bewegungen an der Geige. Autobahnen nennt Hüther diese Wege, die vom ständigen Üben mit den Jahren immer breiter werden. Für eine vielseitige Persönlichkeitsentwicklung könnte es gefährlich werden, wenn sich neben den Autobahnen kaum kleinere Straßen entwickelten, wenn es nur noch um die Musik geht. "Dann fährt man am Leben vorbei." Deshalb, sagt er, sollten Kinder selbst bestimmen, was sie wollen.

Sven Wang war auch 16, als er sich gegen die Solokarriere entschied

Im selben Alter wie jetzt Tassilo Probst war Sven Wang, als er sich gegen eine Solokarriere entschieden hat. Auch er hat täglich stundenlang geübt, Chopin und Brahms am Klavier, auch er hat wichtige Preise gewonnen. "Ich wollte unbedingt Pianist werden." Dann drängte die Entscheidung: Klavierstudium an der Musikhochschule oder doch etwas anderes? Sven Wang entschied sich: dagegen. Heute ist er 22 Jahre alt und promoviert an der Universität Cambridge in theoretischer Statistik.

Was war passiert? Sven Wangs Mutter ist in China während der Kulturrevolution groß geworden und wollte unbedingt Geige lernen. Sie durfte nicht. Ihren Kindern sollte es besser ergehen. "Ich war nicht von Anfang an begeistert", erinnert sich ihr Sohn. Wenn er aufhören wollte, sagte seine Mutter: "Gib nicht gleich auf, spiel jeden Tag wenigstens 15 Minuten." Er machte weiter. Mit zwölf machte es "klick", wie er sagt. "Da beherrschte ich das Instrument so gut, dass etwas Künstlerisches herauskam." Ab da wuchs die Motivation von alleine. "Irgendwann war ich süchtig nach der Perfektion."

In diesem anderen, früheren Leben, tauchte er in eine ganz eigene Welt ein. Man identifiziert sich mit seinen Leistungen, denkt nur noch in Erfolgen - jede Niederlage schmerzt umso mehr. So baut sich der Leistungsdruck immer weiter auf. "Wann immer es schlecht lief, hat es mich stark mitgenommen." Als die Zweifel kamen, stieg er aus. "Ich hatte Angst zu scheitern und wusste nicht, ob ich es in dieser Welt packen könnte oder nicht."

Nachdem er sich gegen das Klavierstudium entschieden hatte, rührte er die Tasten ein halbes Jahr lang nicht an. Als er wieder anfing, entdeckte er das Spielen komplett neu. "Ab da habe ich es nur noch für mich selbst gemacht." Das Spielen mache ihm heute viel mehr Spaß, sagt er, kleine Fehler seien ihm egal. "Das war ein Switch von Leistungssport zu Hobby."

Ob Eltern ein Kind mit fünf zum Musikunterricht schicken, ist die eine Sache. Ob es später auf großen Bühnen steht, entscheiden andere Dinge: Fleiß, Disziplin und die Entscheidung, genau diesen einen Weg zu beschreiten. Tassilo Probst nennt es "den unbedingten Willen zum Erfolg".

Die bedingungslose Liebe zur Musik wird zur Gefahr, wenn alles andere ausgeblendet wird

Während seine Freunde ins Schwimmbad gehen oder abends ihre ersten Biere trinken, muss er sich auf Wettbewerbe vorbereiten. "Mich ärgert das nicht", sagt er, "es gibt nichts, das mir noch mehr Spaß macht als Geigespielen." Angst vor dem Scheitern hat er nicht. Nur einmal bekam er bloß den zweiten Platz bei einem Wettbewerb, weil er die ganze Nacht davor einen Roman gelesen hatte und völlig übernächtigt Fehler machte. "Der war ganz bedröppelt", sagt seine Mutter. Er habe daraus gelernt. "Von da an hat er nur noch erste Preise mit voller Punktzahl gemacht."

Und Sven Wang? Er weiß noch, wie es sich anfühlte, nur dieses eine Ziel zu haben: Erfolg. "Man verliebt sich einfach in Musik und dann ist es das Einzige, was man machen will." Dem Neurobiologen Hüther zufolge wird die bedingungslose Liebe dann zur Gefahr, wenn alles andere ausgeblendet wird. Er pocht auf die breit gefächerte Förderung von Kindern. So könne man ein Leben führen, das einen "offen macht für all die anderen Dinge, die wundervoll sind".

Also lieber nicht nach den Sternen greifen? Jedes Kind sehne sich nach Perfektion, sagt Hüther. "Kinder haben das Bestreben, etwas meisterlich zu tun, das kommt aus ihnen selbst heraus." Die Verlockung des Erfolgs sei es, die das Boot zum Umkippen bringe. Die Kinder liefen Gefahr, davon in Beschlag genommen zu werden.

Wann dieser Punkt erreicht ist, weiß kaum jemand. Auch Tassilo Probst nicht. Außer an russischen Komponisten hat er aber Spaß an trockenem Humor. Er sagt: "Ohne Druck gibt es keine Diamanten."

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