Juli Zeh:Wenn Eltern die ganze Welt durch die Augen der Kinder sehen

Juli Zeh: Juli Zeh, geboren 1974 in Bonn, ist Juristin, Schriftstellerin und Mutter.

Juli Zeh, geboren 1974 in Bonn, ist Juristin, Schriftstellerin und Mutter.

(Foto: imago stock&people)

Auf die Bedürfnisse von Kindern wird heute besonders eingegangen. Das ist gut. Schlecht ist, wenn Eltern dabei ihre eigene Haltung verlieren, sagt Schriftstellerin Juli Zeh.

Von Mareen Linnartz

Eine Geschichte, so ähnlich passiert in einer deutschen Grundschule: Im Schwimmunterricht packt der Lehrer einen Jungen an den Füßen und taucht ihn vom Beckenrand senkrecht mit dem Kopf zuerst ins Wasser. Der Junge ist davor über die nassen Fliesen gefetzt, was er nicht sollte.

Hat der Lehrer ihn also zur Strafe getunkt? Oder wollte er nur zeigen, wie er später selbst sagt, wie man bei einem Kopfsprung ins Wasser eintaucht - weswegen er genau das nur zufällig an dem Jungen demonstrierte, der ihn vorher verärgert hatte? Wie es genau gewesen ist, darüber gehen die Erzählungen der Kinder auseinander.

Gerne hätte man nun die Haltung der betroffenen Eltern erfahren. Ist das empörend, übergriffig, skandalös? Oder vollkommen okay, schließlich ist ja nichts passiert? In der sich darauf entspinnenden Diskussion passiert allerdings etwas Bemerkenswertes: Die große Mehrheit nimmt keine Stellung. Sie lässt stattdessen ihre Kinder Stellung nehmen, und das klingt dann in etwa so: "Ich habe Linus gefragt, und er meinte schon, dass der Junge Angst gehabt hatte...". - "Carla mag den Schwimmunterricht sehr gerne und kann zu der Situation nichts sagen." - "Also Oskar fand das Ganze mehr als ungut!"

Süddeutsche Zeitung Familie
SZ Familie Heft Januar/Februar

Dieser Text stammt aus der aktuellen Ausgabe von SZ Familie, dem 2in1-Magazin für Eltern und für Kinder. Hier bestellen!

Die Schriftstellerin Juli Zeh, selbst Mutter zweier Kinder, drei und fünf Jahre alt, erzählt in einem Interview in der neuen Ausgabe von SZ Familie von einer ganz ähnlichen Geschichte. In ihrem Fall wird ein Junge von einem Lehrer am Ohr gezogen, und weil der Junge selbst das nicht so schlimm findet, verfolgen die Eltern die Angelegenheit nicht weiter. Juli Zeh findet das "dramatisch", weil "die Eltern nicht die Verantwortung übernehmen, sich nicht positionieren und sagen: 'Lieber Sohn, so etwas geht einfach nicht, und dagegen kann man sich wehren!' Stattdessen lastet die ganze Verantwortung auf dem Kind. Es muss alleine entscheiden, ob Gewalt an der Schule okay ist oder nicht."

An diesen Beispielen, sagt sie, zeige sich, was sie selbst schon seit Längerem feststellt: "Ich beobachte, dass viele Eltern Entscheidungen nur noch danach treffen, wie es dem Kind damit geht. Die ganze Welt wird ausschließlich durch die Augen des Kindes wahrgenommen." Und dann kann es sein, dass einem nicht nur die eigene Haltung verloren geht, sondern auch ein Gefühl für die Gemeinschaft: Der Kindergarten plante einen Ausflug in den Tierpark? Mila ist leider dagegen, weil sie schon letzte Woche mit ihren Großeltern dort war. Also sind es ihre Eltern auch.

Kaum eine Elterngeneration zuvor ist so auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingegangen wie die heutige. Sie will die Kinder verstehen, nimmt sie ernst, versucht ihre Sichtweisen zu berücksichtigen. An seine Grenzen stößt dieser Ansatz, wenn Kinder darauf angewiesen sind, dass Eltern Situationen für sie einschätzen. Zeh versucht deshalb, als Mutter "buchstäblich bei jedem Schritt" Haltung zu zeigen. Denn: Wie sollen Kinder diese entwickeln, wenn ihre Eltern sie nicht haben? Und wie sollen sie so später soziale und politisch interessierte Menschen werden?

Für Juli Zeh ist das ein Lebensthema. Die Schriftstellerin ist so aufgewachsen. Ihr Vater Wolfgang Zeh war viele Jahre Direktor beim Bundestag in Bonn, "Politik war bei uns Alltag, wir haben darüber zu Hause gesprochen wie andere über die Schule". Ihr neues Buch "Leere Herzen" zeichnet das Bild einer desillusionierten Generation, der jedes Gefühl für gesellschaftliche Verantwortung abhanden gekommen ist. Haltung, sagt sie im Interview, sei für sie nicht ein "Dogma", sondern etwas, was man "aus sich selbst heraus entwickelt". Und zwar mit Hilfe der Eltern.

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