Jugendliche Alkolholsüchtige:Am Abgrund

Immer mehr Jugendliche haben Alkoholprobleme. Benny war einer von ihnen. Er erzählt, wie er seine Sucht überwunden hat.

Lenz Koppelstätter

Im Sommer vor vier Jahren stand Benny auf einem Hochhaus und wollte springen. Er war 22 und seit acht Jahren alkohol- und drogenabhängig. Eine halbe Stunde lang stand er da und blickte elf Etagen in die Tiefe.

jugendliche und alkohol; dpa

Ein Viertel der Jugendlichen sind mindestens einmal im Monat betrunken, bei den 16- bis 17-Jährigen bereits mehr als jeder zweite.

(Foto: Foto: dpa)

Benny musste an seinen jüngeren Bruder denken, dem er immer ein Vorbild sein wollte. Er dachte an seine Sucht und dass ihm die Kraft fehlte, sie alleine zu bekämpfen. Benny hatte Angst, weiterzuleben. Aber noch mehr Angst, sagt er, hatte er vor dem Sterben. Heute ist er froh, dass ihm auf dem Hochhaus die Kraft fehlte, Schluss zu machen.

Er sitzt im Besucherraum der Klinik Fasanenhof, einer Spezialklinik in München für Jugendliche mit Suchterkrankungen. Sein Gesicht ist aufgedunsen, seine Augen starren ins Leere. Er erzählt seine Geschichte und sagt am Ende selbstbewusst: "Jetzt habe ich den Willen, vom dem Scheißzeug wegzukommen, mit dem ich mir meine ganze Jugend versaut habe." Es ist sein letzter Tag in der Klinik. In wenigen Stunden soll er in ein Leben zurückkehren, das er als 14-Jähriger verlassen hatte. Zwölf Jahre sind seither vergangen.

Bier, Schnaps, Pillen

Der exzessive Alkoholkonsum hat bei Jugendlichen dramatisch zugenommen. Laut nationalem Drogen- und Suchtrat haben Zwölf- bis 17-Jährige im vergangenen Jahr durchschnittlich 50,7 Gramm reinen Alkohol pro Woche konsumiert, das sind mehr als anderthalb Liter Bier. 2005 waren es noch 34,1 Gramm. Ein Viertel der Jugendlichen sind mindestens einmal im Monat betrunken, bei den 16- bis 17-Jährigen bereits mehr als jeder zweite. Die Zahl der Jugendlichen, die mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus landen, hat sich in den vergangenen Jahren fast verdoppelt.

Jugendliche stehen früh unter psychischem Druck. Schon im Alter zwischen elf und 13 Jahren werden sie mit Problemen konfrontiert, die ihren weiteren Lebenslauf bestimmen: hohe Anforderungen in der Schule, Kampf um den Arbeitsplatz, Beziehungsprobleme. "Immer mehr Jugendliche benutzen Alkohol als Schutzschild, um sich aus diesen Stresssituationen zu befreien", erklärt Oliver Bilke von der Berliner Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie "Vivantes". Laut Jugendforscher Klaus Hurrelmann ist das Wochenend-Trinken bei Jugendlichen quer durch alle Gesellschaftsschichten ein großes Problem.

"Suchtgefährdete Jugendliche haben Alkohol zur Betäubungsdroge umfunktioniert. In diesem Stadium ist die Gefahr hoch, dass andere Substanzen dazukommen," sagt Hurrelmann.

Wie der gelegentliche Wochenend-Rausch zur Sucht werden kann, zeigt das Leben von Benny. Er wurde zum Alkoholiker, als der Begriff Koma-Saufen, der die aktuelle Diskussion bestimmt, noch nicht erfunden war. Er hat seinen Konsum nie in Gramm gemessen, sondern in Kästen und Flaschen. Ein Dreiviertel Kasten Bier und eine halbe Flasche Schnaps waren seine Tagesration. Benny wuchs auf in Sachsen. Gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder lebte er bei seiner Mutter. Sein Vater hatte die Familie verlassen, da war er zwei. Mit 14 zog Benny mit einer Gruppe von Skinheads nachts durch die Straßen. Er hoffte, endlich richtige Freunde gefunden zu haben. Die Älteren holten die Bierkästen und den Schnaps, dann wurde getrunken.

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Am Abgrund

"Die erste Erfahrung mit Alkohol fand in unserem Kulturkreis über Jahrzehnte innerhalb der Familie statt. Ein Gläschen Sekt zu Silvester, ein Schluck Bier beim Abendessen. Doch diese soziale Kontrolle ist nun offenbar ins Bröckeln geraten", sagt Jugendforscher Hurrelmann. An Stelle überforderter Eltern würden heute immer häufiger Gleichaltrige diese Funktion übernehmen - und unter Gleichaltrigen gelten andere Spielregeln: Wettbewerb und Konkurrenz. "Da wird erst mal knallhart geschaut, was einer verträgt."

Bald trinkt Benny jeden Abend. Er fühlt sich stark, kann viel vertragen, das verschafft ihm Respekt in der Gruppe. Ohne es zu merken, rutscht er in die Abhängigkeit. "Durch den rasanten Stoffwechsel wird der Körper von Jugendlichen deutlich schneller entgiftet als bei Erwachsenen", erklärt Oliver Bilke von "Vivantes". Der Jugendliche gewöhne sich daran, viel zu trinken - und sein Körper verlange ständig nach mehr.

Benny kommt immer später nach Hause, meistens liegt seine Mutter noch wach und hört, wie ihr Sohn sich übergibt. "Sie wollte mit mir darüber reden, aber ich habe auf niemanden gehört", erzählt Benny. Als sie ihn zum Psychologen schleppt, meint der nur: "Da ist nichts. Typisch Scheidungskind."

Nüchternes Erwachen

Immer wieder wird Benny aggressiv, zu Hause haut er Scheiben zu Bruch. "Ich glaube, meine Mutter hatte richtig Angst vor mir", sagt er. Nach einem Jahr steigt Benny bei den Skinheads aus. Er stürzt sich in die Partyszene und führt ein Doppelleben. "In der Schule habe ich versucht, zumindest die Augen offenzuhalten, nachts sind wir von Club zu Club gezogen. Irgendwann wurde ich nicht mehr richtig betrunken." Die neuen vermeintlichen Freunde wissen ihm zu helfen. Neben Bier und Schnaps schluckt Benny immer häufiger Amphetamine. "Mit 17 habe ich jede Droge genommen, die ich kriegen konnte, auch Heroin habe ich durch die Nase gezogen."

Mit Ach und Krach bringt Benny seinen Hauptschulabschluss zu Ende. Zweimal fängt er eine Ausbildung an, zweimal schmeißt er hin. "Wirklichkeit und Lebensplanung werden in diesem Stadium verdrängt. Nach und nach werden alle anderen Aktivitäten der Suchtbefriedigung untergeordnet", erklärt Suchtexperte Bilke. Benny isst kaum noch etwas und versteckt sich vor Dealern, denen er Geld schuldet. Monatelang schläft er auf Parkbänken oder in der Straßenbahn. "Ich irrte durch die Stadt, und mein Kopf war voll mit schlechten Gedanken. Ich sah das Hochhaus und war fest entschlossen zu springen."

Von irgendwem hatte Bennys Mutter vom Selbstmordversuch erfahren. Sein Bruder und sein neuer Stiefvater holen ihn nach Hause. Benny geht in Therapie, wird rückfällig. Tagelang sitzt er in seiner verwahrlosten Wohnung. Aus Frust drückt Benny Zigaretten auf seinen Händen und Unterarmen aus. Im Mai 2007 sitzt er wieder in der Psychiatrie, dann kommt er nach München, in die Spezialklinik Fasanenhof. Durch Gesprächs- und Arbeitstherapien tastet sich Benny langsam an ein Leben in Nüchternheit heran. Er findet Freunde in der Klinik - richtige Freunde.

"Manchmal sitze ich einfach nur da und überlege, wie lange ich schon keinen Alkohol und keine Drogen mehr angefasst habe. Das macht mich glücklich und stolz." Zum dritten Mal liest er das Buch "Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo". "Ihre Geschichte hat mir sehr geholfen. So wollte ich nicht enden." Er wird in München in eine betreute Wohnung ziehen und sich um einen betreuten Ausbildungsplatz bewerben. Benny weiß nur zu gut, wie schnell ein Rückfall passieren kann.

"Drogen sind für ehemalige Suchtabhängige wie nette alte Bekannte, die man lange nicht gesehen hat. Plötzlich, in den unmöglichsten Situationen, sehnt man sich nach ihnen. Dieses Gefühl muss ein Leben lang unterdrückt werden", erklärt Suchtexperte Bilke.

Zwei Telefonnummern wird Benny immer bei sich tragen. Die seines Stiefvaters und die der Klinik. Falls ihn die Sucht wieder überfällt. Bald wird er seinen jüngeren Bruder wiedersehen. Der hält sich fern von Alkohol und Drogen. Er hat an Benny gesehen, dass man damit alles kaputtmachen kann.

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