Jugenddialekt Kiezdeutsch:"Ich bin Alexanderplatz"

Unvollständige Sätze, durchmischt mit arabischen und türkischen Worten: Kiezdeutsch, die Jugendsprache der Großstädte, hat keinen guten Ruf. Zu Unrecht, sagt Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese: Der Slang wird als Dialekt des Deutschen erhalten bleiben.

Marc Felix Serrao

Machst du rote Ampel", "Die ist so hübsch so", "Yallah, auf sie": Was viele Menschen in Deutschland grauenvoll finden - die Jugendsprache in Großstadtbezirken wie Berlin-Kreuzberg -, findet Heike Wiese faszinierend. Die Professorin für Deutsche Sprache der Gegenwart an der Universität Potsdam forscht seit Jahren zu dem Phänomen. Das Ergebnis erscheint Mitte Februar: "Kiezdeutsch: Ein neuer Dialekt entsteht". In dem Buch wirbt die 45-Jährige dafür, Vorurteile abzulegen und das Ganze zu begrüßen: als neue Spielart unserer Sprache.

Kiezdeutsch Graphik

"Lassma Kino gehen", "ich bin Alexanderplatz": In den Vierteln vieler Großstädte hat sich eine eigene Jugendsprache entwickelt, das Kiezdeutsch.

(Foto: Michael Mainka, SZ-Graphik)

SZ: "Hallo, ich bin die Heike, und ich habe gerade ein Buch geschrieben" - können Sie das bitte mal auf Kiezdeutsch sagen, Frau Wiese?

Heike Wiese: Der Bitte kann ich kaum entsprechen. Kiezdeutsch ist ja Deutsch. Das ist nicht exotisch.

SZ: Bin isch Heike, hab isch Buch geschrieben, Moruk.

Wiese: Ja, das . . . ginge. Es wäre der Situation aber überhaupt nicht angemessen. Unserem Alter auch nicht. Das würde ich vielleicht sagen, wenn ich ein Teenie wäre. Aber auch dann reden die ja so nicht mit Erwachsenen.

SZ: Wie alt sind Kiezdeutschsprecher?

Wiese: Das sind Jugendliche, also etwa zwölf bis 20. Ein Wort wie "Moruk" (Türkisch für "Alter", die Red.) würde aber auch von denen nicht jeder verwenden. Die Jüngeren kennen es noch nicht, und die Älteren benutzen es, wenn, dann zum Spaß. So, wie wenn ich "Alter" sage.

SZ: Sie bezeichnen Kiezdeutsch als Dialekt, also als etwas, das bleibt und dauerhaft ins Deutsche einsickern könnte.

Wiese: Das wäre schön. Wobei: nicht einsickern. Es stößt zum Hochdeutschen dazu, zu unserem bunten Spektrum.

SZ: Sie sagen: schön. Trotzdem gibt es keinen Dialekt, der einen so miesen Ruf hat. Vulgär und falsch, heißt es gern.

Wiese: Dialekte haben allgemein keinen guten Ruf in Deutschland. "Das ist meiner Mutter ihr Hut." Wer so etwas sagt, wird schnell abgestempelt. Beim Kiezdeutsch haben wir außerdem viele Jugendliche, die mehrsprachig sind, mit Migrationshintergrund. Auch das ist negativ besetzt. Migrationshintergrund: Das Wort wird mit Sprachproblemen assoziiert, nicht mit Innovation.

SZ: Die Frankfurter Allgemeine bezeichnete das, was sie innovativ finden, mal als "Schrumpfgrammatik". Können Sie die Kritik nachvollziehen?

Wiese: Nein, aber ich finde es nicht überraschend. Die Überzeugung ist ja soziolinguistisch bekannt, auch aus anderen Ländern: Alles, was nicht Standard ist, wird als falsch wahrgenommen, und nicht als alternative Möglichkeit, Deutsch, Französisch oder Englisch zu sprechen.

SZ: Sie schreiben, das bürgerliche Bildungsdeutsch sei eine Erfindung des 17. und 18. Jahrhunderts. Ein Instrument, der neu entstandenen Mittelschicht, um sich gegen die Dialekte und das Proletariat abzugrenzen. Ist das immer noch so? Sind wir nicht toleranter geworden?

Wiese: Haha. Da sollten Sie mal ein paar der E-Mails lesen, die ich bekomme, wenn über meine Kiezdeutsch-Forschung berichtet wird.

SZ: Was lesen Sie da?

Wiese: Das ist in den meisten Fällen nicht zitierfähig. Da sind starke Emotionen im Spiel. Für viele Leute ist Kiezdeutsch gebrochenes Deutsch, und nur so darf man es ihrer Meinung nach sehen. Da scheint es auch um ein Weltbild zu gehen, das in Gefahr gerät. Gute Sprecher versus schlechte Sprecher.

"Ich bin Thomas Mann"

SZ: Es gibt keine schlechten Sprecher?

Jugenddialekt Kiezdeutsch: "Kiezdeutsch ist Deutsch", sagt die Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese: "Das ist nicht exotisch."

"Kiezdeutsch ist Deutsch", sagt die Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese: "Das ist nicht exotisch."

(Foto: oh)

Wiese: Denke ich nicht. Es gibt schlechte Sprecher des Englischen in Deutschland, oder japanische Touristen, die Deutsch nicht gut beherrschen. Wer eine Fremdsprache lernt, kann gut oder schlecht sein. Aber wer in Deutschland geboren und mit unserer Sprache aufgewachsen ist, der ist kein Aus-, sondern ein Inländer - also ein Sprecher einer Art des Deutschen. Und die ist nicht gut oder schlecht. Wenn ich Kiezdeutsch spreche, heißt das auch nicht, dass ich keine andere Variante des Deutschen beherrsche.

SZ: Und was ist mit der hohen Arbeitslosigkeit junger Menschen mit Migrationshintergrund? Hat das nichts mit mangelndem Sprachvermögen zu tun? Hat einer, der dauernd Kiezdeutsch spricht, im Bewerbungsgespräch keine Nachteile?

Wiese: Ich sage nicht, dass jemand, der Kiezdeutsch spricht, das Standarddeutsch der Mittelschicht problemlos beherrscht. Das hängt aber davon ab, ob er selbst in der Mittelschicht aufgewachsen ist. Es ist unabhängig davon, ob er außerdem noch Kiezdeutsch spricht.

SZ: Die Herkunft spielt keine Rolle?

Wiese: Soziale Herkunft ja, ethnische Herkunft nein. Wir haben zum Beispiel herausgefunden, dass alle Jugendlichen in Kreuzberg Kiezdeutsch sprechen - unabhängig von ihrer Ein- oder Mehrsprachigkeit, ihrer deutschen, türkischen oder arabischen Herkunft. Anders ist es in einem eher monoethnischen Stadtteil wie Hellersdorf. Da sprechen die Jugendlichen kein Kiezdeutsch, sondern klassischen Berliner Dialekt. Nur "Atze" sagen alle.

SZ: Gibt es Kiezdeutsch auch außerhalb von Kreuzberg?

Wiese: Allerdings. Ich bin ja nicht die Einzige, die zu dem Thema forscht. Es gibt ähnliche Untersuchungen aus Hamburg, Mannheim, auch aus Regensburg. Die Ergebnisse sind überall ähnlich.

SZ: Sie bezeichnen Ihre zwei Töchter als "echte Kreuzberger Gören". Beherrschen die beiden Kiezdeutsch?

Wiese: Um es richtig zu beherrschen, sind sie noch zu jung, fünf und acht. Aber sie bringen schon einiges mit nach Hause. "Abu", zum Beispiel. Das stammt aus dem Arabischen und wird ursprünglich beleidigend für Vater benutzt: Dein Vater ist ein Esel, dein Vater ist ein Hund. Im Kiezdeutschen wird es allgemeiner benutzt, als Ausdruck der Empörung.

SZ: Abu, Mami, die Milch ist alle.

Wiese: Zum Beispiel. Als meine eine Tochter zum ersten Mal "Abu" sagte, hat sie es erst mal ständig wiederholt. Mal sehen, was Mami jetzt macht. . .

SZ: Und?

Wiese: Ich hab' gefragt, was das heißt. Sie meinte, das sagt man, wenn jemand etwas Schlimmes macht. Und genau so lernt man Fremdwörter. Wenn ich sie frage, was ein Computer ist, sagt sie auch nicht, das kommt von: to compute, gleich rechnen. Sie sagt: Das ist das Gerät auf deinem Schreibtisch.

SZ: Sprechen Ihre Studenten auch Kiezdeutsch?

Wiese: Viele können das. Die sind dem Jugendalter ja noch nicht lange entwachsen.

SZ: Sie zitieren in Ihrem Buch "Kiezdeutsch" auch den "Tatian", eine althochdeutsche Übersetzung lateinischer Evangelientexte: als Beleg dafür, dass die oftmals wilde kiezdeutsche Stellung der Verben, die im Hochdeutschen falsch ist, an sich nichts Neues ist. "Erino portun ih firchnussu" - "Eiserne Türen ich zerschmettere."

Wiese: Schön, nicht? Bei der Verbstellung gibt uns das Kiezdeutsch Optionen zurück, die wir verloren hatten. Es passt einfach sehr gut in das System des Deutschen, und vieles, das wir in Kiezdeutsch finden, gibt es auch in anderen Varianten des Deutschen so ähnlich, zum Teil nur nicht so ausgeprägt oder so systematisch.

SZ: Zum Beispiel?

Wiese: "Ich bin Alexanderplatz." So etwas schnappe ich oft in der S-Bahn auf. Nominale ohne Präposition und Artikel. Das ist weit verbreitet, wenn jemand mitteilen möchte, wo er gerade ist. Ein paar Studierende von mir haben dazu mal eine schöne Hausarbeit geschrieben. Der Titel war das Zitat eines Mannes, der gerade in einer Straße in Potsdam unterwegs war und das am Handy laut mitteilte: "Ich bin Thomas Mann."

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