Jüdische Kultur in Deutschland:Alles ganz koscher

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Uwe Dziuballa, Gastronom in Chemnitz (Foto: Ulrike Steinke)

Eine seltsame Normalität: Uwe Dziuballa betreibt in Chemnitz das größte koschere Lokal Deutschlands. Zu Besuch bei einem Wirt, für den Antisemitismus Alltag ist.

Ronen Steinke

Gerade erst hat ein junger Mann angerufen: ,,Ich bin kein Jude, darf ich trotzdem bei Ihnen essen?'' ,,Natürlich gern'', hat Uwe Dziuballa gesagt; der Wirt schmunzelt, als er das erzählt. Beim Italiener käme wohl niemand auf so eine Frage.

Eine größere Gruppe von Gästen betritt nun das Restaurant, die Frauen gehen voran, die Männer dahinter tragen Sakkos, ihre Blicke wandern über die weinrot gestrichenen Wände und scannen die Säulen und Bögen, früher war das hier mal ein griechisches Lokal. Für mehr als hundert Gäste ist Platz, auf den Tischen stehen kleine Kerzen: Selbst in der nicht unbedingt exaltierten Chemnitzer Gastro-Szene wäre dieser Restaurantbesuch wohl wenig aufregend - stünde man hier nicht im größten koscheren Restaurant Deutschlands und ausgerechnet in einem der braunsten Winkel Sachsens.

Fast alle Gäste, die hier rein kommen, tun etwas, das man sonst fast nie sieht in Restaurants: Sie nicken den anderen Gästen zur Begrüßung zu, selbst Fremden. Um zu zeigen, wie besonders wohl man sich hier fühlt? Wenn sich Gäste in einem jüdischen Restaurant in Deutschland plötzlich wie auf wackeligen Planken bewegen, wenn manche ältere Besucher, denen Uwe Dziuballa am Eingang höflich mit den Jacken und ein paar Scherzen behilflich ist, ihre Restaurant-Gutscheine mit einer Geste einlösen, als müssten sie eine Prüfung bestehen - dann ist das für Dziuballa genau der Grund, warum er überhaupt ein Lokal eröffnet hat.

Der Wirt sucht nach einer Formulierung, um ein Wort zu umgehen, das ihm missfällt: Normalität. Schließlich will ein Gastronom gut sein, ein Unternehmer erfolgreich, wer nimmt sich schon zum Ziel, nichts Besonderes zu sein? Andererseits: Es sieht schon ulkig aus, wenn Gäste dem Wirt mit einer Vorsicht begegnen, als sei irgendetwas zerbrechlich an diesem Kraftpaket, dessen Brust unter dem weißen Kellner-Hemd spannt.

Dziuballa hat sich an einen Tisch auf einer Art Bühne gesetzt. Sonst finden hier häufiger Konzerte statt. Mit seinem Restaurant will er ,,auch entkrampfen'', sagt Dziuballa, zeigen, dass man die dargebotene Klezmer-Musik mögen kann. Dass man vor dem Gefilten Fisch, jenen kaltgrauen, gelierten und in Scheiben geschnittenen Karpfen-Klößchen, erschaudern kann, ohne dass der Holocaust diese Entscheidungen irgendwie zu beeinflussen braucht. ,,Normalität ist vielleicht doch der treffende Ausdruck'', überlegt Dziuballa dann nach langem Zögern laut. Und springt noch einmal auf, geht von Tisch zu Tisch, bringt Speisekarten und zündet Kerzen an in seinem Restaurant, das ,,Schalom'' heißt. Er spricht es sächsisch-süßlich aus: Schalöm.

Doch wie viel Normalität bleibt übrig im Leben eines Menschen, der hier ein solches Lokal eröffnet? Dziuballa hat mitgezählt: 1.492 Drohanrufe in den ersten zehn Jahren. Wenn wieder einer anruft, ,,Verdammtes Judenschwein'' brüllt, das Lokal für Hitlers Geburtstag reservieren will oder einfach in den Hörer keucht, dann rollt Dziuballa inzwischen mit den Augen, legt auf und macht einen weiteren Strich auf seiner Liste. Das nüchterne Ritual hält den Schock etwas auf Abstand. Der Wirt kann auch vorrechnen, wie wenig es sich lohnt, die regelmäßig durch Steinwürfe zerschlagene Leuchtreklame des ,,Schalom'' zu versichern, weil der Versicherer einen ,,subjektiven Risikofaktor'' veranschlagt. Rein betriebswirtschaftlich gesprochen natürlich. Er zeigt Fotos: Von den vier zerstochenen Reifen an seinem Lieferwagen, von Hakenkreuz-Graffitis, von einem Schweinekopf mit dem draufgeschmierten Wort ,,Jude'', der einmal auf der Schwelle lag.

Uwe Dziuballa wurde 1965 in Karl-Marx-Stadt, wie Chemnitz damals hieß, geboren. Ähnlich wie die meisten Bürger der Stadt sich nie in einer Kirche blicken ließen, ließen sich Dziuballas Eltern nie in einer Synagoge blicken - doch dieser feine Unterschied sei damals, wie Dziuballa erinnert, fast untergegangen. Die Verbrechen an den Juden wurden in der DDR, wo stets nur verallgemeinernd von ,,Opfern des Faschismus'' gesprochen werden sollte, noch gründlicher verdrängt als im Westen, und ohne das schlechte Gewissen der anderen sei das Leben für einen jüdischen Jungen im Wohnblock sogar etwas unkomplizierter gewesen, deutet Dziuballa an. ,,Nicht besser, aber anders'', schränkt er vorsichtig ein. Später, an der Uni gab der Elektrotechnik-Student Dziuballa einmal Widerworte, als eine Dozentin im Politikunterricht den ,,zionistischen Aggressor'' Israel in allen Farben ausmalte. Danach fand er einen Zettel in seiner Jacke an der Garderobe: ,,Judensau verschwinde''. Ein Schock. Solche Vorfälle häuften sich. Dziuballa trug zwar nie eine Kippa, schon gar nicht in der Uni. ,,Aber wenn es einmal raus ist, spricht sich's herum.''

Dann das Kontrast-Erlebnis, kurz nach der Wende. Dziuballa lehnt sich zurück und breitet die Arme aus, als er die Worte ausspricht: New York! Das große Aufatmen. Er hatte überraschend eine Chance bei einer Bank in den USA bekommen. Und war begeistert davon, wie ,,normal egal'' das Judentum dort war. ,,Diese ganze Pathosgeschichte fiel mit einem Mal weg.'' Nun verkaufte er Geldanlagen, verdiente ,,grotesk viel Geld mit wenig Arbeit'', und wäre so ,,fast zu einem völligen Idioten geworden'', wie er heute sagt. Mit Rolex und Sportwagen.

Nach Chemnitz holten ihn 1994 die schlechten Nachrichten zurück: Der Vater lag im Sterben, Krebs. Dziuballa kam zur Vernunft und später zum Glauben, er begann, Lesungen und Klezmer-Konzerte in seine Heimatstadt zu holen und fand sein Lebensthema: Könnte man dieses elendige ,,Pathos'' vielleicht am ehesten überwinden - beim Essen?

Wie unwahrscheinlich ist das? Die kleine koschere Insel, aus der es nach Kümmel, Senf und Gebratenem duftet, setzte Dziuballa mitten in die Chemnitzer Innenstadt, als ringsherum eine ganz andere Normalität aufzog. Vorne: führt die ,,Straße der Nationen'' heute vorbei an einem großen Neonazi-Laden, der sich die Hausnummer mit einem Asia-Imbiss teilt, weiter an einer Spielhalle, einem Second-Hand-Shop und einem sehr langen Beate-Uhse-Schaufenster. Hinten: rückt der Leerstand heran. Man kann hier binnen Minuten durch ganze Straßenzüge gehen, die bereits tot sind und porös und dunkel daliegen wie Raucherbeine. Über dem ,,Schalom'', im zweiten Stock, zog eine Security-Firma ein, die für ihre Kontakte zur rechten Szene bekannt ist. ,,Mit den Nachbarn von oben ignoriere ich mich aber ganz gut'', erklärt Dziuballa. Die Security-Männer grüßen, wenn sie ihm einzeln an der Treppe begegnen. Sind sie in der Gruppe, grüßen sie nicht.

Bis 1938 gab es in Chemnitz eine prächtige Synagoge mit bunten Fenstern und Platz für 700 Betende; heute steht an ihrer statt, nur wenige Straßen weiter, eine helle Glas-und-Beton-Schnecke, in die es am Schabbat-Abend hineinregnet. Es sind kaum zwanzig Menschen gekommen, die gegen das Plätschern ansingen könnten. Der Rabbi empfiehlt keinem, der ihn fragt, draußen eine Kippa zu tragen. Dziuballa trägt seine Kippa trotzdem überall. Als der Vater 1994 beerdigt wurde, wollte die Mutter nicht mehr fort, deswegen sind Dziuballa und sein Bruder bis heute geblieben. Der Wirt, der zuletzt für die SPD als Stadtrat kandidierte, legt aber auch Wert darauf, dass Chemnitz ,,viel Potential'' habe.

Erst spät am Abend, als die Gäste gegangen sind, gibt es Momente, in denen der freundliche Ton des Wirts unerwartet ins leicht Derbe kippt. Uwe Dziuballa und einer dieser nächtlichen Sachbeschädiger - einer gegen einen - ,,vier Minuten'' würden ja genügen, sagt er und zeigt Narben aus Jugendtagen wie zum stolzen Beweis. Das sind vier Minuten, die er freilich nie bekommt. Gegen anonyme Anrufe und heimliche Randale kann man sich ebenso unmöglich zur Wehr setzen wie gegen heimliche Hasszettel, man ist zur Opferrolle verdammt. Und das ist am Ende vielleicht das Schmerzhafteste.

Im April, nachdem Dziuballa wieder mal die Scherben aller fünf Lampen vor seinem Lokal zusammengefegt und den Urin aus dem Briefkasten gewaschen hatte, kamen einige Dutzend Chemnitzer zur Solidaritätskundgebung für das ,,Schalom'' vor das Rathaus. Doch manchem fiel auf, dass in den Reden stets nur von ,,gedankenloser Zerstörung'' oder ,,mangelndem Respekt vor Eigentum'' gesprochen wurde. Erst ein Redner von der Opferberatung sprach von dem in der Stadt virulenten Antisemitismus. Allerdings: Es war Uwe Dziuballa selbst, der um Schweigen gebeten hatte. Er hatte leise angeregt, doch bitte nicht das Besondere seiner Situation, sondern die Gemeinsamkeit mit anderen Chemnitzer Gastronomen in den Vordergrund zu stellen.

,,Hat es geschmeckt?'' Als Uwe Dziuballa kürzlich die Teller abräumte, drückte sich ein Restaurant-Gast verschüchtert um eine Antwort. Nach langem Zögern sagte er: ,,Ich will nicht antisemitisch sein, aber die Hühnersuppe war doch ein bisschen fad.'' Dziuballa erzählt das jetzt wieder in bester Laune: Die osteuropäisch-jüdische Küche ist nicht eben für Geschmacksexplosionen bekannt, sie spart an Gewürzen und Fleisch, ,,weil man sparen musste als sie entstand'', und die traditionelle Hühnersuppe mit den Knödeln aus Matzemehl, den Kneidlach, ist im ,,Schalom'' vielleicht auch nicht der Star auf der Karte.

Antisemitisch sei daran nichts, versicherte Dziuballa dem Gast fröhlich. Über die zarte Kritik - eine Seltenheit im ,,Schalom'' - war er so entzückt, dass sich dann ein wunderbares Gespräch entsponnen habe, erzählt der Wirt. Worüber? ,,Ach, über nichts Besonderes.''

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