Süddeutsche Zeitung

Jubiläum der Fußgängerzone:60 Jahre und ein bisschen öde

Eine 275 Meter lange Straße mit 578 Stufen: In Kassel entstand 1953 die erste Fußgängerzone Deutschlands. Bis heute hat sich am Konzept wenig geändert. Und so bleiben zumeist gesichtslose Stadtzentren zurück - ohne Einkäufer.

Von Anna Günther

Vom "schönsten Glauben der Bürgerschaft an die Zukunft" schwärmte Willi Seidel. Als der Kasseler Oberbürgermeister am 9. November 1953 Deutschlands erste Fußgängerzone offiziell eröffnet, ist die Treppenstraße das Symbol für eine neue Zeit. Weg mit dem alten Muff, es sind Wirtschaftswunderjahre. Die kürzeste Verbindung zwischen Hauptbahnhof und Zentrum wird zur breiten Flaniermeile mit Plätzen sowie Rampen für Kinderwagen. Die Anknüpfung Kassels an die große Welt sollte dieses 275 Meter lange Sträßchen mit 578 Stufen sein. Ein Neuanfang auf den Überresten einer zerbombten Stadt.

Das Konzept Fußgängerzone hat sich vor allem im zerstörten Europa durchgesetzt. Die Limbecker Straße in Essen wurde zwar schon 1927 als "fahrverkehrsfreie" Einkaufsstraße angelegt, doch 1953 ist das Jahr der Fußgängerzonen: Europas erste wurde im Oktober mit der Lijnbaan in Rotterdam eröffnet. Kassel folgte im November, die Kieler Holstenstraße und die Schulstraße in Stuttgart im Dezember. Die Gelegenheit, ungehindert von Bebauung zu planen, war einmalig. Und sie kam dem Symbol des Fortschritts sehr entgegen: dem Auto.

Den Stadtplanern in der Nachkriegszeit war das Schaffen einer autogerechten Stadt am wichtigsten. Einkaufen, Wohnen und Verkehr sollten in getrennten Bereichen stattfinden. Der Verkehr wurde in Ringstraßen um die Zentren herumgelegt. Dort hatten Spaziergänger und ungestörtes Bummeln Vorrang. Als Vorbild galten die großen Einkaufsmalls in den USA, die gebaut wurden, um einladende Einkaufsmöglichkeiten abseits der verwahrlosten Innenstädte zu schaffen. Doch was ist 60 Jahre nach der Eröffnung der ersten Fußgängerzone von der Vision geblieben?

Planungsfehler in Deutschland

Den damals abgebrochenen historischen Gebäuden wird mittlerweile hinterhergetrauert. "Anders als heute ernteten die Planer damals keinen Widerspruch", sagt die Architektin und Stadtplanerin Christiane Thalgott. Die Bewohner der zerbombten Häuser waren längst anderswo untergekommen. Mit der Neugestaltung der Innenstädte sollten auch hier bessere Bedingungen geschaffen werden. "Die hygienischen Zustände kann man sich gar nicht vorstellen, Familien hausten zusammengepfercht ohne fließend Wasser", sagt der SPD-Politiker Hans Eichel. Sein Vater war als Architekt intensiv am Wiederaufbau beteiligt. Hans Eichel selbst beeinflusste als Kasseler Oberbürgermeister 16 Jahre lang die Stadtgestaltung. Er weitete die verkehrsberuhigte Zone aus und versuchte zugleich, die Einkaufsstraßen zu beleben. Die Verödung der Treppenstraße jedoch konnte er nicht verhindern.

Ein Problem, das in vielen Städten auftritt. Ursache ist die räumliche Trennung von Wohnen, Verkehr und Einkaufen. Wo tagsüber genügend Passanten flanieren, sind die Innenstädte abends oft tot. Anders ist das in Südeuropa, dort ist abends überall Leben in den Fußgängerzonen. Die Istiklal Straße in Istanbul etwa gilt nachts als Zentrum der Feierfreudigen und ist tagsüber Einkaufsmeile. Das liegt aber nicht am südlichen Temperament, sondern schlichtweg an Planungsfehlern in den deutschen Fußgängerzonen. Die Stadtplaner sind sich mittlerweile einig, dass die strikte Abgrenzung ein Fehler war.

"Trotz allem sticht die Kasseler Treppenstraße heraus, nie wurde das Konzept der Verkehrstrennung so strikt umgesetzt", sagt Architektin Thalgott. "Auf Treppen können keine Autos fahren." Das könnte aber auch ein Malus sein: In anderen Fußgängerzonen ist immerhin der Lieferverkehr erlaubt. Denn an der Aufgabe, die Treppenstraße wieder zu beleben, scheiterte auch Thalgott in ihrer Zeit als Chefin der Kasseler Stadtplaner - obwohl sie das nebenan errichtete Einkaufszentrum zur Treppenstraße hin öffnen ließ, damit die Besucher dort weiterbummeln. Auch in ihren 15 Jahren später als Münchner Stadtbaurätin hielt Thalgott am Konzept der autogerechten Stadt fest, die dortige Fußgängerzone prosperiert.

Glanz alter Zeiten

Der Unterschied? München hat Geld. "Kassel war nie reich und hat schon immer in größeren Dimensionen geträumt", sagt Thalgott. Immer wieder seien Projekte begonnen und nicht zu Ende geführt worden, weil Geld fehlte. Gleiches gelte für die Bürger: Wer soll in Kassel die Einkaufsstraßen beleben, wenn die Kaufkraft fehlt? Das ist ein Problem vieler Städte, fernab der Shoppingmetropolen. Laut einer aktuellen Studie der Maklerfirma Engel und Völkers zieht Münchens Fußgängerzone die meisten Passanten an, gefolgt von Wien, Stuttgart und Hamburg. Die Stadtzentren sind mittlerweile gesichtslos geworden, überall zeigen die großen Ketten die gleichen Auslagen. Sie können die teuren Mieten in bester Lage bezahlen, die kleinen Fachgeschäfte haben das Nachsehen.

In der Treppenstraße in Kassel gibt es dennoch einen Laden, der die Jahrzehnte überdauert hat. Seit 185 Jahren verkauft die Firma Hess hier Brillen. "Das Geschäft ist ein Begriff, dafür nehmen die Kunden sogar die Treppenstraße in Kauf", sagt Inhaberin Elke Vollmer. Sie setzt auf Stammkunden, denn Laufkundschaft kommt kaum noch vorbei. Nur im Sommer sei Betrieb, wenn die Cafés ihre Terrassen öffneten. "Die Verlagerung der Fernzüge an die Wilhelmshöhe im Jahr 1991 hat den Bedeutungsverlust des Hauptbahnhofes und damit auch der Treppenstraße wohl endgültig besiegelt", sagt Alt-Bürgermeister Eichel.

Trotz aller Schwachstellen ist das städtebauliche Konzept Fußgängerzone unangefochten. In München wurde erst vor wenigen Monaten der jüngste Abschnitt in der Sendlinger Straße eröffnet. "Das Konzept hat sich seit Jahrzehnten nicht geändert, das wird auch so bleiben", sagt die Stadtplanerin Thalgott. Wenn viel Verkehr zusammenkommt, müsse dieser geordnet und eigene Bereiche für Fußgänger, Fahrradfahrer und Autos geschaffen werden. In Kassel, der deutschen Keimzelle der Fußgängerzone, soll nun eine "Gastronomiemeile" wieder Leben hineinbringen. Damit ein wenig vom Glanz alter Zeiten zurückkommt.

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SZ vom 08.11.2013/jst
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