Kolumne: Vor Gericht:Strafrabatt

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Mundraub - das Pflücken von Obst, das auf einem Privatgrundstück wächst - ist eine Straftat. (Foto: Bernd Weißbrod/dpa)

Dieben, die aus Hunger, Durst oder Angst vor dem Erfrieren handelten, gewährte das Gesetz in früheren Jahren Milde. Zu Recht, findet unser Kolumnist.

Von Ronen Steinke

An Silvester 1946 predigte Erzbischof Josef Kardinal Frings in der Kirche von St. Engelbert in Köln-Riehl. Es war eiskalt, seit Wochen schon, viele waren in diesem Hungerwinter gestorben, lebten noch in Ruinen. Um an Brennstoffe zu kommen, sprangen Verzweifelte auf fahrende Züge auf, stopften sich die Taschen voller Kohlen und sprangen wieder ab. Und Frings? Predigte über das siebte Gebot, „Du sollst nicht stehlen“, und sagte dabei zum Entsetzen der britischen Besatzungsmacht: „Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder Bitten, nicht erlangen kann.“

Die Predigt ist berühmt geworden. Frings nahm damals frommen Katholiken etwas von ihrer Gewissensnot ab. Klauen ist erlaubt, wenn die Not groß ist. Und die Not war groß. Die Diebstähle nahmen in diesem Winter sehr zu; welchen Anteil Frings daran hatte, ist unklar.

An diese Predigt muss ich heute manchmal denken, wenn ich in einem Gerichtssaal sitze und erlebe, wie ein Langzeitarbeitsloser sich für den Diebstahl von zum Beispiel zwei Kürbiskernbrötchen und einer Gurke verantworten muss, was in Deutschland wieder häufiger geworden ist seit der Inflation. Es gibt ein altes, biblisches Wort, das einem in den Sinn kommen kann. „Mundraub“. Das galt mal als lässliche Sünde.

„Wenn du in den Weinberg eines andern kommst, darfst du so viel Trauben essen, wie du magst, bis du satt bist, nur darfst du nichts in ein Gefäß tun. Wenn du durch das Kornfeld eines andern kommst, darfst du mit der Hand Ähren abreißen, aber die Sichel darfst du auf dem Kornfeld eines andern nicht schwingen.“ So steht es im Fünften Buch Mose, Kapitel 23, Verse 25, 26. Eine ähnliche Nachsicht gab es lange auch im irdischen Recht. Anders als bei gewöhnlichem Diebstahl – Höchststrafe: fünf Jahre – durften die deutschen Gerichte bei einer „Verbrauchsmittelentwendung“ höchstens eine Geldstrafe von 500 Mark oder maximal sechs Wochen Haft verhängen, ein spürbarer Unterschied.

Davon ist heute wenig geblieben. Gott sei’s geklagt: Im Strafgesetzbuch wurde dieser Strafrabatt für Diebe, die aus Hunger, Durst oder Angst vor dem Erfrieren handelten, im Jahr 1975 ersatzlos gestrichen. Seither ist es mit dieser Milde vorbei, es gibt lediglich noch eine Möglichkeit für die Gerichte, dass sie Diebstähle bis zu einem „geringen“ Sachwert von 25 Euro leichter einstellen können als andere.

Was aber geblieben ist? Das Wort „fringsen“ steht heute als Ausdruck für „etwas aus der Not heraus stehlen“ im Duden für deutsche Umgangssprache. Eine Reverenz an die Silvesterpredigt von 1946, zu der übrigens noch ein wichtiges Detail gehörte: Sobald die Not vorbei ist und man wieder bezahlen kann, soll man die Bestohlenen entschädigen.

In dieser Serie schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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