Dem Geheimnis auf der Spur:Grausige Nachrede

Dem Geheimnis auf der Spur: Johanna I. von Anjou (1326 - 1382) war Königin von Neapel und Gräfin der Provence.

Johanna I. von Anjou (1326 - 1382) war Königin von Neapel und Gräfin der Provence.

(Foto: imago stock&people)

Johanna I. von Anjou sollen ihre eigenen Kinder als Weihnachtsbraten vorgesetzt worden sein. Wie kam es zu dieser Legende?

Von Rudolf von Bitter

Womit begann das Unheil im malerischen Bergdorf Roccasparviera - mit der Zerstörung, gefolgt von dem Fluch, oder umgekehrt? Die Ortschaft in den Bergen über Nizza liegt seit Jahrhunderten in Trümmern. Das Département des Alpes-Maritimes bewirbt in seiner Wanderbroschüre auch diese Gegend, vor allem den 1100 Meter hohen Gipfel mit atemberaubendem Panorama, dem Blick auf die Täler und Schluchten der Flüsse Paillon im Osten und Vésubie im Westen und den Col Saint-Michel in der Ferne. Was auf die verstörende Saga hinweist, kommt in der Broschüre nicht vor. Vielmehr steht dort eine Warnung: Vorsicht beim Besuch des zerstörten Weilers, denn manche Mauerteile und Fensterstürze drohen wegen jahrhundertelanger Verlassenheit zusammenzufallen.

Hier lebten im 13. Jahrhundert etwa 150 Menschen, es gab eine Kirche, ein Herrscherhaus, eine Verwaltung und einen Geistlichen. Durchaus idyllisch, doch irgendwann drehte sich das Rad der Fortuna, als habe der Teufel den Ort entdeckt: Eine Heuschreckenplage löste Hungerjahre aus, die Pest kam, Herrscher wechselten, ein erstes Erdbeben erschütterte den Ort 1564. Weitere von 1612 und 1618 besorgten den Rest. 1723 gab der Pfarrer als Letzter auf.

In namenloser Wut, so heißt es, habe die Mutter den Ort verflucht

Der Landstrich gehört zur Grafschaft Provence, von 1267 bis 1481 beherrscht von der jüngeren Linie des Hauses Anjou, die vor allem die Könige von Neapel stellte, auch Avignon gehörte zum Besitz. König Robert "der Weise" (unter anderem förderte er Petrarca und Boccaccio) hatte 1330 seine damals vierjährige Enkelin Johanna I. von Anjou zur Erbin ernannt, obwohl andere Anjous, in Ungarn herrschend, Ansprüche erhoben. Um einen Konflikt zu vermeiden, wurde Johanna mit Prinz Andreas von Ungarn vermählt, der überdies ihr Vetter war. Andreas forderte den Königsthron und hatte dabei Papst Clemens VI. auf seiner Seite, wurde aber 1345 in Kampanien ermordet, angeblich auf Betreiben Johannas. Johanna heiratete darauf Ludwig von Tarent, auch einen Cousin. Doch Andreas' Bruder Lajos I. der Große fiel in Neapel ein, und Johanna flüchtete in die Provence, angeblich eben nach Roccasparviera.

Sie soll schließlich den Fluch ausgestoßen haben, dass "nicht Hahn noch Henne auf diesem blutigen Felsen jemals mehr krähen solle". Zuvor war, der Legende nach, in der Weihnachtsnacht 1357 etwas Grausiges geschehen. Johanna ging zur Christmette in die Kirche von Coaraze und hörte auf dem Hinweg eine hämische Verkündigung: "La regina en venant de la messa, troverà taula messa - Kommt die Königin von der Messe, ist der Tisch schon gedeckt." Zurückgekehrt fand sie tatsächlich einen zubereiteten Braten vor - doch das sollen ihre Kinder gewesen sein. In namenloser Wut, so heißt es, habe sie den Ort verflucht und sogar Feuer gelegt, damit hier sicher nichts mehr gedeihen würde.

Allerdings: Johannas angeblicher Aufenthalt in Roccasparviera ist nirgends nachgewiesen. Ihren Sohn Karl Martell, gezeugt von ihrem ersten Mann Andreas, hat sie seit der Flucht nicht mehr gesehen. Er wurde von Andreas' Bruder nach Ungarn verschleppt, lebte aber nicht lange. Die beiden Kinder, die sie von ihrem zweiten Mann Ludwig von Tarent hatte, starben beide kurz nach der Geburt.

Der Papst begnadigte Johanna im Zusammenhang mit dem angeblichen Gattenmord, als sie ihm Avignon verkaufte. Ludwig von Tarent lebte bis 1362. In diesem Jahr konnte Johannas dritter Ehemann, Jakob IV. von Mallorca, dem Eisenkäfig entfliehen, in dem ihn sein Onkel 14 Jahre lang eingesperrt hatte. Jacob war zehn Jahre jünger als Johanna, aber durch die Käfighaft völlig verroht.

Johannas Leichnam wurde eine Woche lang zur Schau gestellt

Nach seinem Tod heiratete Johanna ein viertes Mal: den Söldnerführer Otto der Tarentiner, aus dem Geschlecht der Welfen. Ihr Reich konnte sie allmählich befrieden, dafür mischte sie aktiv mit im Schisma der Päpste. Doch bald gab es neuen Streit um die Erbfolge: Karl von Durazzo, der Kleine, Johannas Vetter zweiten Grades, ließ sie ins Gefängnis werfen und am 22. Mai 1382 dort erdrosseln. Ihren Leichnam stellte er eine Woche lang aus, damit kein Zweifel bleibe an ihrem Tod und er als Karl III. ihre Nachfolge antreten konnte.

Wie aber kam es zur Legende von Johanna als möglicher Kinderfresserin? Die früh verstorbenen Kinder aus der zweiten Ehe könnten ein Indiz zur blutrünstigen Saga sein. Einen anderen Zugang zur Legende könnte vielleicht Charles Perrault liefern, der Ende des 17. Jahrhunderts in seinem Märchen "Das Dornröschen oder die schlafende Schöne im Wald" von vergangenen Zeiten schrieb, in denen es Feen, Menschenfresser und Kobolde gab. Während die Brüder Grimm bei "Dornröschen" schnell zum guten Ende kommen, ehelicht bei Perrault die schöne Prinzessin nach hundertjährigem Schlaf den Prinzen, dessen Mutter hier eine Menschenfresserin ist. Sie muss an sich halten, um nicht über die Kinder des jungen Paares herzufallen. Irgendwann will sie sich das Töchterchen servieren lassen - zubereitet mit Sauce Robert, also gehackten Zwiebeln mit Salz, Pfeffer, Essig und etwas Senf, so Perrault. Doch der Hausmarschall versteckt das Kind, dann das Brüderchen und schließlich deren Mutter vor der Kannibalin.

Johanna stand zuerst im Verdacht, hinter dem Mord an ihrem ersten Ehemann zu stecken, dann wurde sie selbst im Kerker umgebracht, dazu ihr dritter Ehemann, der im Käfig gehaltene Erbprinz von Mallorca - historisch also viel Schreckliches. Perraults späteres grausames Märchen verweist auf zurückliegende Zeiten, die zu Johannas Lebensumständen passen. Die waren ja Ende des 17. Jahrhunderts auch schon lange her.

Betroffene eines Unglücks mühen sich um dessen Verständnis. Dass wie in Roccasparviera Unheil aus heiterem Himmel kommen kann, ob Heuschrecken oder Erdbeben, übersteigt die Vernunft und lässt ratlos zurück. So mag vielleicht die Legende vom Fluch der empörten Mutter und Königin Johanna manchen eine Erklärung geboten haben.

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