Joggingschuhe:Ufos für den Fuß

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Obwohl Schuhe immer neue Stützen und Dämpfer bekommen, bleibt die Verletzungsrate bei Läufern gleich hoch.

Sebastian Herrmann

Läufer brauchen nicht viel, um ihren Sport auszuüben: ein Paar Schuhe, eine schöne Strecke und einen Arzt, der ihnen sagt, dass sie ihre Knie noch nicht ruiniert haben. Und ist es nicht das Knie, dann vielleicht das Sprunggelenk oder die Achillessehne. Seit Jahrzehnten sind die Verletzungsraten unter Hobby-Läufern konstant hoch.

Daran haben viele Jahre Schuhentwicklung nichts verändert, in denen aus unscheinbaren Sportartikeln überdrehte Fuß-Ufos geworden sind. Mit Pronationsstütze, Crash-Pad, Cushlon-Mittelsohle, Torsion-System, Gel, Air, Heel-Clutching-System, Biomorphic-Konzept. Es ist Zeit, Fragen zu stellen: Steckt mehr als heiße Luft hinter diesen Marketing-Begriffen? Schonen moderne Joggingschuhe mit dieser Austattung die Gelenke und schützen sie Läufer vor Verletzungen? Die Antwort lautet: Nein.

"Die Rate laufinduzierter Verletzungen ist seit etwa 30 Jahren konstant", sagt Gert-Peter Brüggemann, Leiter des Instituts für Biomechanik und Orthopädie an der Deutschen Sporthochschule Köln. Wie viele Läufer sich tatsächlich verletzten, ist aber nur schwer zu sagen. Niemand registriert jeden einzelnen Meniskusschaden übermotivierter Wochenend-Jogger.

Bei einer Auswertung medizinischer Studien zu Verletzungen von Ausdauerläufern erhielten die Ärzte um Marienke von Middlekoop vom Erasmus-Krankenhaus Rotterdam Daten von enormer Streubreite. Der Anteil der verletzten Jogger in den einzelnen Studien, lag zwischen 19 und mehr als 90 Prozent, schrieben sie vor drei Jahren im British Journal of Sports Medicine. Immerhin eine Aussage ließ sich exakt treffen: Am häufigsten war das Knie beeinträchtigt.

Mediziner um Craig Richards von der australischen Universität Newcastle schreiben im gleichen Fachblatt, dass sich 37 bis 56 Prozent der Hobbyläufer wenigstens einmal im Jahr eine Verletzung zuziehen. Diese Leiden sind selten akut, sondern entstehen meist durch chronische Belastungen. Ein verletzter Jogger ist in der Regel nicht gestürzt, sondern zu viel gerannt. Stefan Grau, Biomechaniker von der Universität Tübingen, sieht auch eher die Hobbysportler selbst als Ursache. "Heute laufen ganz andere Leute als früher. Früher waren die meisten Jogger in einem besseren körperlichen Zustand, bevor sie mit dem Laufen angefangen haben."

Das Marketing rund um Jogging-Schuhe suggeriert allerdings, dass die meisten Verletzungen durch den richtigen Schuh vermeidbar seien. Das schiebt die Verantwortung ebenfalls dem Kunden zu: Knirscht es im Gelenk, hat er eben die falschen Schuhe gekauft.

Um das zu vermeiden, braucht man inzwischen fast schon einen Termin im Sportgeschäft. Der Läufer soll sich dabei fragen, ob er zur Pronation oder Supination neigt - ob sein Sprunggelenk also beim Aufsetzen nach innen oder nach außen dreht. Ob er mit dem Vor-, dem Mittelfuß oder doch mit der Ferse zuerst aufsetzt.

Und beim Fußgewölbe: Hohlfuß? Spreizfuß? Dieses Wissen muss der Sportler dann zusammen mit einem Verkäufer interpretieren und unter Aufsicht auf einem Laufband joggen, um Antworten auf weitere Fragen zu finden: Ist ein besonders stark gedämpfter Schuh nötig? Oder sollte der Kunde zum Wohle seiner Beine mehr Wert auf Stabilität legen?

Am Ende seines Kaufmarathons hat er ein buntes Statussymbol erworben und stürzt sich in der Überzeugung ins Training, seine Gelenke seien bestens geschützt - zum Teil offenbar mit negativen Konsequenzen. In Versuchen haben kanadische Forscher beobachtet, dass Jogger ihren Laufstil verändern, wenn sie von der Qualität ihrer Schuhe besonders überzeugt sind. Je stärker die Schuhe vermeintlich gedämpft waren, desto fester rammten die Probanden ihre Füße auf den Boden.

Wohin der Trend beim Schuhdesign geht, warum barfuß laufen gesünder sein soll und ob weiche Schuhe das Verletzungsrisiko steigern.

Ist dadurch das Risiko einer Verletzung höher? Man weiß es nicht. "Bei dem ganzen Thema wird viel spekuliert", sagt Biomechaniker Brüggemann. Trotzdem galten gedämpfte Schuhe lange als Goldstandard. Wissenschaftlich überprüft wurden die weichen Schuhe aber nie. "Das Konzept der Dämpfung ist rein intuitiv", sagt Brüggemann, "es gibt keine belastbaren Daten, die belegen, dass Kraftspitzen beim sogenannten Impact in Zusammenhang mit Verletzungen stehen." Niemand behaupte mehr, starke Dämpfung schütze vor Verletzungen.

Im Gegenteil, die Meinung hat sich gedreht. Schuhe mit weicher Sohle sind heute verpönt. Stark gedämpfte Schuhe seien besonders instabil, heißt es nun, und erhöhen das Verletzungsrisiko womöglich. "Die Dämpfung reduziert vielleicht die Belastung in den Gelenken, aber zwingt die Kraftspitzen immer auf den gleichen Punkt im Gelenk", sagt Wilhelm Bloch von der Deutschen Sporthochschule in Köln.

Und selbst ein minimaler Schlag kann Folgen haben, wenn er viele tausendmal auf denselben Punkt ausgeführt wird. Womöglich werden so Knorpelschäden oder ähnliche Verletzungen durch chronische Belastungen wahrscheinlicher, wenn die Schuhe die Gelenke in die stets gleiche Position drängen. Um die Beine variabel zu belasten, hat Thomas Milani daher einen teuren Vorschlag: "Wenn man mit dem Laufen beginnt, wäre es sinnvoll, zwei oder drei verschiedene Paar Schuhe zu kaufen, um den Fuß variabel zu trainieren", sagt der Biomechaniker an der Technischen Universität Chemnitz.

Hohe Ferse außer Mode

Auch die hohe Ferse, die die meisten Joggingschuhe in den vergangenen Jahren hatten, ist wieder außer Mode. In der Theorie sollte dies die Achillessehne schonen. In der Praxis wurde dadurch offenbar das Gegenteil erreicht: Die Häufigkeit von Verletzungen an der Achilles-sehne bei Joggern habe in den vergangenen Jahren zugenommen, schrieben der australische Mediziner Craig Richards und seine Kollegen im Jahr 2008 im British Journal of Sports Medicine.

Und was ist mit Pronations- und Supinationsstützen? "Stützen funktionieren häufig nicht zufriedenstellend, weil sie die Belastung am Knie sogar erhöhen können", sagt Biomechaniker Brüggemann. "Bei der Kontrolle des Sprunggelenks werden die Auswirkungen auf das Knie oft vernachlässigt." Die stabilen Schuhe hätten die Gelenke nur verkantet, zum Schaden von Knorpeln, Bändern und Sehnen. Darüber hinaus haben Menschen, deren Sprunggelenk beim Auftreten nach innen dreht, dadurch nicht zwingend ein höheres Verletzungsrisiko.

Näher an den Boden

"Was die Joggingschuh-Hersteller in den letzten Jahrzehnten gemacht haben, war nicht der Weisheit letzter Schluss", sagt Thomas Milani. Ähnlich drückt es Brüggemann aus: "Einige der vermeintlichen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte werden wir wieder abrüsten." Was wiederum bedeutet, dass die nächste Mode in die Verkaufsregale drängt. Jetzt soll die Fuß-Muskulatur ins Training einbezogen werden. Die Schuhe werden flacher, Dämpfung und seitliche Stützen reduziert. "Ziel ist es, den Fuß wieder näher an den Boden zu bekommen", sagt Milani.

In den USA wird diese Idee bis zur letzten Konsequenz getrieben. Hier heißt der Trend: Barfußlaufen, beziehungsweise Laufen mit speziellen Minimal-Schlappen, die die Füße nur vor Schnittverletzungen schützen. Millionen Jahre habe die Evolution gebraucht, um den menschlichen Fuß zu erschaffen, argumentieren die Anhänger der neuen Meinung. Durch Joggingschuhe werde der Läuferkörper hingegen aus seinem natürlichen Bewegungsablauf gezwungen, Verletzungen seien unvermeidbar.

Auf den ersten Blick gab kürzlich das hochrangigen Fachjournal Nature den Barfuß-Missionaren recht. Der Evolutionsbiologe Daniel Lieberman von der Universität Harvard berichtete dort, dass die Knie von Läufern, die ohne Schuhe joggten, wesentlich geringere Kräfte auszuhalten hätten als die von Läufern mit Sportschuhen. Barfuß treffen die Füße nämlich eher mit dem Ballen oder dem Mittelfuß auf dem Boden auf. Der Aufprall wird dabei von Knochen, Muskeln und dem Halteapparat in den Füßen stark abgefedert, bevor die Ferse aufsetzt und die Stoßenergie über das Sprunggelenk weitergeleitet werde. Läufer mit Schuhen treten hingegen erst mit der Ferse auf. Entsprechend größere Kräfte erreichen die Knie.

Daniel Lieberman legt aber auf eine Feststellung größten Wert: Seine Studie treffe keine Aussagen über Verletzungsgefahren. "Mir sind keine wissenschaftlich publizierten Daten bekannt, die zeigen, dass Barfuß-Läufer ein geringeres Verletzungsrisiko haben als Jogger mit Schuhen." Über den Fuß im Laufschuh und die Verletzungen von Joggern wird also weiter spekuliert werden. Derweil kaufen die Hobbysportler Schuhe. "Die Debatte um das Barfußlaufen kommt der Sportartikelindustrie entgegen, da haben sie wieder ein Thema", sagt Thomas Milani.

© SZ vom 20.03.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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