Süddeutsche Zeitung

Japan:"Wir hatten einen Anruf wegen möglicher Kindesentführung"

  • In der japanischen Gesellschaft herrschen immer noch sehr tradierte Geschlechterrollen: der Mann geht arbeiten, während sich die Frau um Haushalt und Kind kümmert.
  • Väter, die sich um ihre Kinder kümmern, sind aber nach wie vor eine Seltenheit in Japan.
  • Ein Vater sah sich nun mit dem Vorwurf der Kindesentführung konfrontiert, weil er mit seiner zweijährigen Tochter alleine unterwegs war.

Von Thomas Hahn

Mikito Tsurugi ist der Beweis dafür, dass nicht alle japanischen Männer gleich sind. Er gehört nicht zu denen, die ihr Leben im Anzug verbringen, demütig arbeiten, bis sie spätabends zur Frau heimkehren, die sich demütig um Haushalt und Kind kümmert. Mikito Tsurugi, 40, ist Bassist und Comiczeichner, früher war er Manager der Rockband Shinsei Kamattechan. Verheiratet ist er mit Kamiko Inuyama, 37, die eine gefragte Essayistin ist, also der Beweis dafür, dass nicht alle japanischen Frauen gleich sind. Und Tsurugi macht bei der Erziehung der gemeinsamen Tochter mit - was ihn zuletzt allerdings dem Verdacht ausgesetzt hat, ein Kidnapper zu sein.

Die japanische Gesellschaft verändert sich. Ihr dämmert es, dass man die Geschlechterrollen auch anders verteilen kann, als es die konservativen Eliten gewohnt sind. Der Mann schafft, die Frau tänzelt drumherum - so ungefähr funktioniert aus deren Sicht Familie. Aber die Bevölkerung altert und schrumpft, Frauen werden als Arbeitskräfte gebraucht. Andere wie das Paar Mikito und Kamiko finden Gleichberechtigung einfach gut.

Zahlen des japanischen Gesundheitsministeriums belegen, dass die Männer sich zunehmend in der Familie engagieren: 2015 nahmen knapp 60 Prozent der Väter weniger als fünf Tage Erziehungsurlaub, 2018 waren es nur noch 36,3 Prozent. Dafür stieg die Zahl derer, die zwischen fünf und 13 Tagen Erziehungsurlaub nahmen, von 17,8 auf 35,1 Prozent. Es sind die Zahlen eines sehr langsamen Wandels, und seit einer denkwürdigen Schnellzugfahrt kann Tsurugi bezeugen, dass Väter, die sich um ihre Kinder kümmern, noch nicht angekommen sind im Japan des 21. Jahrhundert.

Es war im August, Hauptferienzeit. Mikito Tsurugi war allein mit der Zweijährigen im Shinkansen unterwegs. Sie weinte. Tsurugi gelang es nicht, sie zu beruhigen. Er erinnert sich, dass jemand "Ruhe!" rief und ihn aufforderte, rauszugehen. Das tat er dann auch. Die Tochter weinte weiter. Der Zug hielt an einem Bahnhof an. Polizisten kamen, einer sagte: "Wir hatten einen Anruf wegen möglicher Kindesentführung." Tsurugi hörte, wie ein anderer in sein Funkgerät sprach: "Da sind ein Mann und ein Mädchen. Keine Mutter in Sicht." Dann prasselten Fragen auf ihn ein. Die Polizisten glaubten ihm erst, als er sich mit seiner Krankenkassenkarte ausgewiesen und seine Frau angerufen hatte, die bestätigen konnte, dass er kein Kidnapper ist.

In sozialen Medien hat das Paar die Geschichte danach erzählt. Diskussionen folgten. Manche fanden es falsch, dass Tsurugi mit dem Kind Zug fuhr. Jemand empfahl, Vater und Kind sollten ähnliche Kleidung tragen, um dem Verdacht vorzubeugen. "Es sollte einem ans Herz gehen, dass Männer so unter Druck stehen, wenn sie sich an der Kindererziehung beteiligen", sagt Kamiko Inuyama in der Zeitung Asahi Shimbun, man sehe wohl einfach zu selten Männer mit ihren Kindern im Shinkansen. Und Mikito Tsurugi? Den hat die Kritik ein bisschen gestört, das gibt er zu. Er findet, Männer können genauso gut Kinder erziehen wie Frauen. Er fühlt sich auf seine Männlichkeit reduziert.

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SZ vom 05.11.2019/hij
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