Jan Gehl über:Fußgänger

Der dänische Architekt versucht seit mehr als 40 Jahren Städte auf der ganzen Welt menschenfreundlicher zu machen. Mit immer größerem Erfolg.

Interview von Laura Weissmüller

Der 78-Jährige kennt offenbar keine Müdigkeit. Tags zuvor ist der dänische Architekt und Stadtplaner stundenlang mit Studenten durch München gelaufen, am Abend hat er einen energischen Vortrag im schicken Salon Luitpold gehalten, jetzt ist es noch nicht mal halb neun Uhr morgens und er empfängt schon wieder zum Interview.

SZ: Wie viele Schritte sind Sie gestern gegangen?

Jan Gehl: (Holt ein kleines, rotes Gerät aus seiner Sakkotasche) Heute sind es noch nicht so viele, aber gestern waren es 11 303.

Dabei sind Sie das erste Mal seit43 Jahren wieder durch München spaziert. Hat Ihnen gefallen, was Sie gesehen haben?

Zunächst ist es wichtig zu wissen, dass gestern ein sehr sonniger Tag war. An jeder Ecke sah ich Tausende glückliche Menschen, die einfach nur im Gras saßen und das Leben genossen. Ich war angenehm überrascht über die Lebendigkeit auf den Plätzen und auf den Straßen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in München den Plan, die Stadt möglichst autogerecht wieder aufzubauen. Hätte sich dieser Wunsch erfüllt, würde heute eine Autobahn direkt durch das Zentrum führen und zentrale Plätze wären umtoste Verkehrsknotenpunkte.

Das wusste ich nicht, aber es ist typisch für diese Zeit. Als die Autos kamen, war jeder von ihnen fasziniert, und die Verkehrsplaner waren plötzlich sehr damit beschäftigt "gute Verkehrsszenarien" zu entwerfen. Das, was Sie von München erzählen, ist mehr oder weniger das, was ich vor drei Jahren in Moskau gesehen habe. Jeder Platz war komplett zugeparkt. Die Menschen benutzten die Stadt kaum, einfach weil es keinen Platz für sie gab.

Wie beeinflusst so etwas das Leben in einer Stadt?

Wir wissen aus 40 Jahren Forschung, dass das Leben in einer Stadt sehr von den Bedingungen dort abhängt. Wenn wir viele Hochhäuser bauen und die Straßen dadurch windig und verschattet sind, gehen die Leute nicht raus. Wenn wir die Straßen mit Lärm, Gestank und Gefahren füllen, auch nicht. Wenn wir stattdessen die Plätze von Autos frei räumen, sodass Kinder rumrennen können und man sich mit einem Kaffee auf eine Bank setzen kann, ändert sich das. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen dem, was die Stadt macht, und was die Menschen in ihr machen. Wenn man das Leben in einer Stadt töten will, kann man das. Wenn man Menschen auf die Plätze holen will, auch.

Wie soll das gehen?

Es gibt viele konkrete Dinge, die wir machen können. Um es abzukürzen: Lassen Sie die Menschen so viel wie möglich zu Fuß gehen und Fahrrad fahren! Das ist gut fürs Klima, gut für die Gesundheit - und gut für die Gesellschaft. Denn wenn die Menschen den öffentlichen Raum benützen, fördert das den sozialen Zusammenhalt. Wenn die Bewohner einer Stadt sich auf öffentlichen Plätzen begegnen, statt isoliert in ihrer Wohnung zu hocken, haben sie das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Das Leben auf öffentlichen Plätzen ist wichtig für die soziale Gesundheit.

Der Modernismus muss in Ihren Augen genau das Gegenteil im Sinn gehabt haben. Laut Ihnen hat er das Leben in der Stadt zerstört.

Denken Sie an die Städte in Ostdeutschland, wo man 40 Jahre lang "Plattenbau" (er spricht das Wort deutsch aus) gebaut hat. Das Gleiche finden Sie auch in Moskau und Sankt Petersburg oder in China. Und vergleichen Sie solche Orte mit Plätzen in München. Das hier sind sehr lebendige Plätze. Plattenbau dagegen ist purer Modernismus. Park dein Auto hier! Lebe dort! Arbeite da! Erhol dich dort drüben! Wenn man diese Orte untersucht, wird man herausfinden, dass das Level an Aktivitäten deutlich niedriger ist als in Städten, die in anderen Epochen gebaut wurden. Bis zum Modernismus haben wir Städte für Menschen gebaut, basierend auf dem, was wir wussten, auf unseren Traditionen und Erfahrungen. Aber dann kamen diese Jungs und meinten: alles falsch! Alles, was wir über Menschen wussten, gilt ab heute nicht mehr! Denn jetzt haben wir den modernen Menschen, der sich von all den anderen Menschen unterscheidet, die bislang auf dieser Erde gelebt haben.

Sie haben damals studiert, als das Ideal einer autogerechten Stadt aufkam.

Tatsächlich gab es diese Gedanken schon viel früher. Sie begannen in den Dreißigerjahren, aber der Krieg hat sie aufgehalten. Erst als der Wiederaufbau begann, wurde der Modernismus zur führenden Ideologie für den Städtebau.

Für die Architektur, die dabei herauskommt, haben Sie wenig übrig. Sie nennen sie "Bird-Shit-Architektur".

Oft rede ich auch von dem Brasília-Syndrom. Brasília war die neue Hauptstadt für Brasilien, die 1955 geplant wurde. Basierend auf all diesen fantastischen neuen Ideen des Modernismus. Viel wurde dafür unternommen, dass die Stadt großartig aussah - vom Flugzeug aus. Wie sie am Boden aussah, daran hat keiner gedacht. Und auch nicht daran, wie diese Stadt auf Augenhöhe funktionieren würde.

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(Foto: GehlArchitects)

Für viele Architekten ist Brasília immer noch eine Ikone der Moderne.

Mir ging es immer darum, nicht die Gebäude zu erforschen, sondern das Leben dazwischen. Ich wollte wissen, wie unser Leben von den Gebäuden unterstützt oder negativ beeinflusst wird. Eigentlich ist es ziemlich offensichtlich: In einer alten Stadt stehen zwei Gebäude so weit auseinander, dass Menschen und Pferde dazwischen hindurchkamen. Dafür brauchte es nur eine schmale Straße. Wenn wir diese nun auf 30 Meter ausdehnen, kann der Mensch auf der einen Seite kaum mehr erkennen, was auf der anderen Seite passiert.

Was ist so schlimm daran?

Das menschliche Maß bedeutet sehr viel. Es ist wichtig zu wissen, wie der Homo sapiens geht und wie seine Sinne funktionieren. Der Modernismus hat uns darüber verwirrt, was der richtige Maßstab ist. Er hat alles Wissen einfach hinweggefegt. Plötzlich fingen wir an, Städte zu bauen, die gut für eine Geschwindigkeit von 60 Kilometer pro Stunde sind und nicht mehr für die fünf Kilometer, die ein Fußgänger in einer Stunde zurücklegt. Wer mit dem Auto kommt, braucht breite Straßen und große Plätze, um etwas zu sehen oder um einfach sicher zu wenden. Damit war die Stadt plötzlich gut für Autos, aber nicht mehr gut für Menschen.

Am Anfang Ihrer Karriere reisten Sie nach Italien, um das Leben in den Städten zu erforschen.

Als junger Architekt arbeitete ich Anfang der Sechziger in einem Büro in Kopenhagen. Eines Tages kam ein Mann zu uns, der ein großes Grundstück hatte und dort Wohnhäuser errichten wollte. Dieser Mann war sehr christlich, und er wollte etwas Gutes tun in seinem Leben. Deswegen sollten wir ihm Häuser entwerfen, die "gut für Menschen" sind. Sein Auftrag löste bei uns Panik aus. Wir waren nur fünf im Büro und sollten herausfinden, welche Architektur gut für Menschen ist?! Doch sein Wunsch war wie ein Katalysator. Wir nahmen Psychologen in unser Team auf - zum ersten Mal in der dänischen Baugeschichte planten Psychologen und Architekten zusammen - und holten uns unsere Inspirationen von italienischen Städten.

Warum ausgerechnet aus Italien?

Man kann auch in Deutschland, in Skandinavien oder in Irland wunderschöne Plätze finden. Alle alten Städte sind für Menschen gebaut worden. Wenn wir Urlaub haben, besuchen wir solche Orte. Wir fahren nicht zu den Plattenbauten in Dresden. Länder wie Italien, Spanien, Griechenland haben dank ihres Klimas und ihrer Kultur die Kunst entwickelt, wie öffentliche Plätze am besten zu nutzen sind. Die Wohnungen in Griechenland oder Italien sind zum Beispiel nicht besonders dekoriert, aber die Plätze und Straßen sind es! Denn das sind die Orte, wo sich die Menschen treffen. In den skandinavischen Ländern, wo das Klima nicht so freundlich ist, sind die Wohnungen extrem stilvoll eingerichtet. Wir haben dänisches Design, finnische Lampen und schwedische Kissen. Das Leben spielt sich drinnen ab. Während also die Skandinavier nach Hause gingen, gingen die Italiener, Griechen und Spanier lieber raus und entwickelten ihre Städte. Deswegen wusste ich: Wenn ich wirklich etwas über das Leben in den Städten lernen will, dann ist Italien ein guter Ort dafür.

Nun ist Kopenhagen nicht Siena. Welche Ideen konnten Sie in den Norden retten?

Tatsächlich habe ich herausgefunden, dass das Verhalten des Homo sapiens überall das gleiche ist. Wenn es warm ist, sitzt er in der Sonne. Wenn es zu warm ist, geht er weg. Überall sieht er den Mädchen hinterher und steht gerne in geschützten Ecken. Es gibt so viele Dinge, die überall die gleichen sind! Nur die Bedingungen sind unterschiedlich. Nehmen wir Island, wo es nur fünf Tage im Jahr so ist wie in Italien. In diesen fünf Tagen sind die Isländer Italiener.

Sich italienisch zu verhalten hat vielleicht etwas damit zu tun, Zeit zu haben.

In den 50 Jahren meiner Forschung haben wir immer mehr Freizeit hinzugewonnen. Wir haben heute längere Ferien und kürzere Wochen, wir studieren länger und gehen später ins Berufsleben, wir leben länger. All das bedeutet: Wir haben viel mehr Zeit zur Verfügung. Die guten alten Italiener haben immer viel Zeit damit verbracht, auf ihren Plätzen zu sitzen. Jetzt haben wir dieselbe Zeit und sollten die Kultur entwickelt, den öffentlichen Platz genauso zu verwenden wie sie.

Das klingt alles sehr schön, aber wie soll das funktionieren?

Eigentlich ist es ganz einfach: Wenn man die Autos aus den Städten rausnimmt, oder zumindest ihre Zahl reduziert, Bänke aufstellt, Fußgängerwege anlegt, eben ein Signal gibt, dass dieser Platz den Menschen gehört und sie hier eine gute Zeit haben können, dann kommen sie auch. Wenn man schöne Räume fürs Stadtleben anbietet, dann entstehen dort neue Ideen.

Aber wie bitte sollen wir wieder die Autos aus unseren Städten kriegen?

Zur Person

Jan Gehl, 78 Jahre, ist Architekt und Stadtplaner. Statt neue Bauten zu entwerfen, beschäftigt sich der Däne seit mehr als 40 Jahren lieber damit, wie das Leben zwischen den Gebäuden funktioniert, wie sich also Plätze, Straßen und ganze Stadtviertel auf den Alltag der Bewohner auswirken. Mit seiner Firma Gehl Architects berät Gehl Metropolen auf der ganzen Welt, wie sie menschenfreundlicher werden können. Dank ihm ist Kopenhagen, wo er lebt, die fahrradfreundlichste Stadt der Welt. Moskau und New York richteten nach seinen Ratschlägen autofreie Zonen ein und Bogotá schuf Fahrradwege. Wichtigster Grundsatz in Gehls Stadtplanung ist das menschliche Maß. Sein Buch "Städte für Menschen" ist dieses Jahr auf Deutsch erschienen.

Durch unsere Studien wissen wir: Wenn man mehr Straßen baut, dann bekommt man auch mehr Verkehr. Wenn man Straßen rausnimmt, gibt es danach weniger Verkehr. Niemand kann Straßen aus einer Stadt entfernen - außer er ist der liebe Gott. Das mit den Straßen wissen wir nur durch ein Erdbeben in San Francisco. Damals wurde der Embarcadero Freeway, die Hauptverkehrsachse von San Francisco, gesperrt. Die Menschen sagten: Wir brauchen diese Straße unbedingt, sonst stirbt die Stadt! Aber nach drei Monaten zeigte sich: Der Gegend ging es prächtig. Verkehr ist wie Wasser, er findet immer neue Wege.

Nachdem Sie New York beraten haben, wurde der Times Square autofrei. Moskau legte nach Ihrem Besuch breite Radwege an. Wie überzeugen Sie die Bürgermeister von Ihren Ideen?

Wenn ich Städte wie New York oder Moskau berate, zeige ich denen einfach meine Studien und sage: Ihr könnt euch entscheiden. Wenn ihr öffentliches Leben wollt, dann müsst ihr mehr dafür tun.

Laut Ihnen vollzieht sich gerade ein Paradigmenwechsel. Unsere Städte werden immer menschenfreundlicher. Aber was ist mit den Megacitys in China?

Der Druck auf die Städte, so schnell wie möglich zu wachsen, ist groß. Und die Architekten kennen einfach nichts Besseres als Plattenbau. Der ist effizient und sehr schnell zu errichten. Als die Jungs ihn damals entwickelten, wussten sie rein gar nichts über den Menschen. Sie wussten nur etwas über die Konstruktion und glaubten, jeder Mensch sei mit Küche, Bad und zwei Zimmern zufrieden. Damit war für sie das Problem erledigt. Damals ging es nur darum, den Menschen so schnell wie möglich ein Dach über dem Kopf zu bieten. Erst danach machte man sich darüber Gedanken, was man da eigentlich gebaut hatte. Mein erstes Buch hieß "Leben zwischen Häusern", weil es genau das war, was man bis dahin immer übersehen hatte: den Raum, der uns Menschen Lebensqualität bieten kann.

Können Sie sagen, welche Einflüsse das Leben in Megacitys auf den Alltag der Menschen dort hat?

Ich weiß nicht besonders viel darüber. Aber allgemein kann man sagen, dass es wichtig wäre, solche gigantisch großen Metropolen behutsam in kleinere Stadtteile zu unterteilen und diese dann wiederum in fast dörflich überschaubare Nachbarschaften, damit die Menschen, die dort leben, ein Gefühl der Zugehörigkeit entwickeln können, statt im Niemandsland einer großen diffusen Stadt zu treiben.

Gerade in China müssen gerade fortwährend alte Stadtviertel weichen, um neuen Platz zu machen. Was bedeutet das für die Menschen, die dort lebten?

Immer, wenn Menschen aus ihrer alten Nachbarschaft, die noch ein menschliches Maß besaß, verdrängt werden - ganz egal, wo das auf der Welt passiert - bedeutet das eine sehr dramatische Veränderung in ihrem Lebensstil und meistens auch einen drastischen Verlust an Lebensqualität.

Haben wir die Fähigkeit verloren, lebenswerte Viertel zu bauen? Wer heute in Neubauvierteln herumläuft, bekommt sofort schlechte Laune.

Das Problem mit den neuen Vierteln ist, dass die Architekten erst ein System entwickeln müssen, damit die Menschen dort angenehm zu Fuß gehen können. Doch die Architekten, die heute planen, sind alle in der Ära des Autos aufgewachsen, sie kennen nur diese Art zu denken. Mit dem Auto hat der Maßstab gewechselt, aber der Mensch hat immer noch dieselbe Größe! Unsere Füße, unsere Augen - alles ist dasselbe. Die Pläne müssen sich wieder an den Menschen anpassen, nicht umgekehrt.

Sie beraten Städte wie Kopenhagen, Melbourne oder Zürich. Können es sich nur reiche Städte leisten, menschenfreundlich zu werden?

Es gibt da einen Zusammenhang. Wenn es einer Stadt wirtschaftlich besser geht, dann ist die Bevölkerung weniger besessen von Quantität, sondern interessiert sich mehr für Qualität. Aber auch das ändert sich gerade. Mein Punkt ist: Das Günstigste, was man tun kann, um das Leben in einer Stadt zu verbessern, ist, sich wirklich für die Menschen zu interessieren. Und das ist auch das Einfachste.

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