Intimchirurgie als Gesellschaftsphänomen:Schnitte an der Schamlippe

Faistauer, Liegender Frauenakt mit Apfelstillleben

Diese Lady ("Liegender Frauenakt mit Apfelstillleben" vom österreichischen Maler Anton Faistauer aus dem Jahr 1911) scheint ganz zufrieden mit sich. Doch jede zehnte Frau findet sich im Intimbereich nicht schön, berichten Intimchirurgen - und zücken das Skalpell.

(Foto: Salzburg Museum)

Lange akzeptierten sich die Deutschen wenigstens im Schambereich so, wie sie waren. Damit ist es seit einiger Zeit vorbei. Intimchirurgie ist kein Tabu mehr: Jetzt verschönern Chirurgen auch Genitalien - bei Frauen und Männern.

Von Christina Berndt und Cornelius Pollmer

Wer noch nicht geahnt hatte, worum es bei dieser Tagung gehen würde, den klärt Doktor Marwan Nuwayhid gleich zu Beginn mit der ersten Folie seiner Präsentation auf. Vier Vaginen sind darauf zu sehen, als wären sie zur Fahndung ausgeschrieben. Im Grunde stimmt das ja auch, denn Nuwayhid sagt, er gehe davon aus, "dass jede zehnte Frau unzufrieden ist mit ihrem äußeren Genital". Gleichzeitig sei es "sehr schwer für uns, an die Patientinnen heranzukommen", sagt Dominik von Lukowicz, ein plastischer Chirurg aus München, der neben Nuwayhid auf dem Podium sitzt. Es gebe einfach zu viele Hemmungen.

Ein Freitag im Frühling, das Marriott Hotel in Leipzig. Die Gesellschaft für ästhetische und rekonstruktive Intimchirurgie Deutschland (Gaerid) trifft sich zu ihrer ersten Tagung. Erster Eindruck: Draußen vor der Tür steht ein weißer Porsche mit Nürnberger Kennzeichen im Halteverbot. Hinter der Windschutzscheibe ist der "Notarzt"-Schriftzug ausgerollt. Zweiter Eindruck: Die Dottores Nuwayhid, Lukowicz und Kollegen berichten auf dem Podium von Frauen, denen sie so gern helfen würden, wenn sie sich nur meldeten. Das klingt ein bisschen so, als wollten sich ein paar Chirurgen einen Markt schaffen, den es womöglich aus gutem Grund bislang in Deutschland kaum gibt. Dritter Eindruck: Vielleicht ist das hier doch ein wichtiges Thema.

Keine Designer-Vagina

"Es geht nicht um Designer-Vaginen, wir sind keine Designer", sagt Gaerid-Gründer Nuwayhid. Er berichtet von den USA, wo der Markt schon besteht, wo Menschen aber auch gegen Intimchirurgie protestieren. Auf ihren Plakaten steht dann zum Beispiel "Love your Labia", liebe deine Schamlippen. Nuwayhid sagt, er habe "noch keine Demoplakate gesehen, auf denen stand: Liebe deine Höckernase. Nur, weil es im Intimbereich ist, soll es Sünde sein?"

"Es", damit sind operative Eingriffe an Schamlippen gemeint, an der Klitoris oder am Hodensack. Es geht um Männer, die einen Hodenhalter tragen und darüber zwei Sporthosen, damit sie einigermaßen unbeschwert Fußball spielen können. Es geht um Frauen, die meinen, wegen ihrer zu großen Schamlippen Schmerzen beim Sex oder beim Fahrradfahren zu haben. Oder um solche, die viele Kinder geboren haben, "und danach ihr Recht auf Intimleben wiedergewinnen möchten". Sagt Nuwayhid. Immer wieder heben er und seine Kollegen das Leiden hervor, das sie mit ihrer chirurgischen Kunst lindern möchten. Das Leiden am zu Großen oder zu Kleinen, am zu Dicken oder zu Dünnen. Schmerzen könnten schwinden, versprechen sie, und der Sex könnte besser werden. Doch, auch das räumen sie ein: Oft geht es weniger um Funktion und mehr um Form - um den Anspruch an die eigene Ästhetik.

Leiden mit echtem Krankheitswert, das sich mit Skalpellen beheben lässt, sei selten in der Schamregion zu finden, monieren Fachleute, die die Branche kritisch im Auge haben. Wenn, dann würden entsprechende Eingriffe von den Krankenkassen bezahlt. Bei den Eingriffen der Intimchirurgen aber gehe es den Menschen vielmehr darum, einer neuen Intimästhetik zu entsprechen, sagt Ada Borkenhagen, Leiterin der Abteilung für Medizinische Psychologie und Soziologie am Universitätsklinikum Leipzig. Ausgerechnet in einer Region, die die meiste Zeit des Tages niemand zu sehen bekommt - und wenn überhaupt, dann nur sehr vertraute Personen? Was treibt Menschen an, Schnitte und Narben an ihren sensibelsten Körperstellen in Kauf zu nehmen? Sich auf Operationen einzulassen, bei deren Schilderung die meisten Zuhörer unwillkürlich schützend die Beine übereinanderschlagen?

Die Scham ist nicht mehr verschämt. "Sie wird zum zweiten Gesicht", so bringt es die Hamburger Psychosomatikerin Aglaja Stirn auf den Punkt. Die Mehrheit der jungen Menschen ist inzwischen im Intimbereich rasiert. Cunnilingus, der Oralsex am weiblichen Genital, hat Einzug in die deutschen Schlafzimmer gehalten. Das alles liefert ganz neue Einblicke. "Durch die Rasur der Schamhaare wird der Blick aufs äußere Genital frei, und das weckt neue Wünsche", sagt Ada Borkenhagen. "Es existiert von nun an eine ästhetische Norm, wie man da unten auszusehen hat." Und mit der Norm kommt die Unzufriedenheit.

Intimchirurgen sind für Frauen da, denen ihre Schamlippen nicht gefallen, weil sie nicht symmetrisch sind oder zu groß. Die es nicht mögen, dass die kleinen Schamlippen zwischen den großen hervorlugen. Die eine engere Scheide möchten. Und die Chirurgen sind auch da für Männer mit dem Wunsch nach mehr. Zwischen 1500 und 5000 Euro kosten die Eingriffe - je nachdem, wie viel gemacht wird. Und viele, die sich operieren lassen, sparen lange darauf.

In der Gesellschaft angekommen

Umsätze und Angebot der Intimchirurgen wachsen derweil. Die Zunft ist erfindungsreich. So erfindungsreich, wie die Vorstellungen, Ängste und Hoffnungen der Menschen mannigfaltig sind. Für immer neue Wünsche finden die Chirurgen Lösungen. Und schaffen zugleich immer neue Wünsche in einem Bereich, den Menschen früher einfach so nahmen, wie er war.

Mehr als 7000 Operationen im Intimbereich werden in Deutschland pro Jahr vorgenommen, Tendenz steigend, hat die Deutsche Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgen (DGPRÄC) soeben bekannt gegeben. Allein 5400 davon seien Korrekturen der Schamlippen. Dieser Eingriff sei "in der Mitte der Gesellschaft angekommen". Noch ist die Zahl mickrig im Vergleich zu den USA oder dem nach allen möglichen Schönheitsoperationen lechzenden Brasilien, wo die Intimchirurgie schon seit vielen Jahren im Trend liegt. In den USA wächst der Markt nach Angaben der Gaerid jährlich immer noch um 20 bis 30 Prozent.

Versetzung der Klitoris zum Lustgewinn

Auch in Deutschland also ließe sich mehr erreichen, sind Marwan Nuwayhid und seine Kollegen überzeugt. Dazu muss in den Menschen nur die Idee wachsen, dass mit ihrem Genital etwas nicht in Ordnung sein könnte. So wie das schon bei Prinzessin Marie Bonaparte der Fall war, die 1927 den ersten wissenschaftlich beschriebenen Versuch unternahm, die Lust durch einschneidende Methoden zu steigern.

Zeit ihres Lebens klagte die französische Psychoanalytikerin, Sigmund-Freud-Unterstützerin und Urgroßnichte Napoleons über sexuelle Unerfülltheit - und glaubte später durch Vermessung von 243 weiblichen Genitalien auch den Grund dafür gefunden zu haben: Der Abstand zwischen ihrer Vagina und ihrer Klitoris sei ungünstig, stellte Bonaparte fest und publizierte diese These unter ihrem Pseudonym A. E. Narjani auch in einer medizinischen Fachzeitschrift. Ein befreundeter Chirurg verlegte daraufhin ihre Klitoris. Doch auch nach einer weiteren Operation stellte sich der gewünschte Erfolg nicht ein.

Wäre ein Gang zum Psychiater für Leib und Seele nicht der gesündere Weg? "Die Zahl der psychisch gestörten Patientinnen, die diese Eingriffe nachfragen, würde ich eher als unterdurchschnittlich einstufen", sagt die Plastische Chirurgin Sigrid Hülsbergen-Krüger aus Hamburg. Allenfalls lassen sich Menschen mit einem geringen Selbstbewusstsein leichter von den Botschaften der Schönheitschirurgen beeinflussen. Sie wünschen sich solche Eingriffe häufiger als Frauen mit einem ausgeprägten Selbstwertgefühl, folgert die Wiener Gesundheitspsychologin Beate Wimmer-Puchinger aus einer kleinen Studie.

Im Foyer vor dem "Ballsaal USA" bei der Tagung in Leipzig wirbt die Meyer-Haake GmbH für "Kleben statt nähen oder klammern!", die angeblich "beste Erfindung, seit es Pflaster gibt". Einen Raum weiter, am Stand der Premiumedswiss, wird in Ermangelung eines freiwilligen Probanden am offenen Schnitzel operiert. Nebenan, bei Ellmann, hat man sich für die Hühnerbrust von Edeka entschieden. Das Fleisch wird hüben wie drüben mit Radiofrequenz geschnitten, es riecht nach Verbranntem. Auf einem Tisch liegen drei Silikonkissen, als wäre das hier ein riesiges Hütchenspiel. Ein Standbetreuer zeigt auf die aktuelle Ausgabe einer Regionalzeitung, in der die Gaerid-Tagung mit einem etwas blumigen Text angekündigt wird. Er schüttelt den Kopf und sagt: "Die bleiben immer an diesen Muschi-Artikeln hängen."

Den Männern geht es um die Optik

Dabei ist es längst nicht nur das weibliche Genital, in das Chirurgen ihre Skalpelle schieben. Männer sind inzwischen gute Kunden in den Praxen der Schönheitschirurgen, die wiederum den Begriff "Kunden" gar nicht lieben, sondern betont von "Patienten" sprechen. Jede sechste aller Schönheitsoperationen wird den aktuellen Zahlen der DGPRÄC zufolge an einem Mann vorgenommen. Penis-Korrekturen seien aber weiterhin ein "Randthema", so die DGPRÄC. Nur 150 Mal hätten die Mitglieder der Gesellschaft im ganzen Jahr 2011 am Penis operiert, die Entfernung der Vorhaut einmal nicht mitgezählt.

Kleingeschnippelt wird hier allerdings nicht. Größer oder dicker soll das männliche Geschlecht mit Hilfe der Skalpelle werden. Vielleicht um einen Zentimeter länger, maximal um drei. Mehr geht nicht. Dazu schneiden die Chirurgen ein Stück Bindegewebe in Penisnähe durch. Danach sieht größer aus, was in Wirklichkeit nicht größer ist. "Der Penisschaft verschwindet weniger in der Bauchdecke", erläutert Regina Wagner, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie (DGÄPC). Und DGÄPC-Präsident Sven von Saldern betont: "Es wird nichts Funktionelles verändert." Soll heißen: Es geht nur um die Anmutung; mehr Potenz wird nicht dranoperiert.

Immerhin: Das Risiko für Komplikationen gilt in der Intimchirurgie als nicht besonders hoch. Das räumen auch Kritiker ein. Aber es ist wie bei jedem Eingriff gegeben - und damit, könnte man meinen, angesichts der meist nicht vorhandenen Notwendigkeit für Operationen im Intimbereich schlicht zu hoch. Schließlich wird in Gegenden geschnitten, wo die Durchblutung größer ist als etwa am Nasenbein und wo es naturgemäß mit der Hygiene schwieriger ist als an der Brust.

"Die Genitalregion ist von einem dichten Nervengeflecht durchzogen", ergänzt Klaus Friese, Direktor der Frauenkliniken der Universität München. "Jeder operative Eingriff beeinträchtigt diese Strukturen und irritiert die Nervenenden." Langfristig, so Friese, können die OP-Narben daher beträchtlich schmerzen; die Schamlippen können überempfindlich werden oder auch taub. Wie häufig das vorkommt, ist nicht bekannt, weil es keine zuverlässigen Register gibt, die für eine Qualitäts- und Risikokontrolle eigentlich nötig wären. Aber wenn es passiert, werden Sexleben und lange Fahrradtouren wohl eher nicht schöner werden.

Die Seele nicht vergessen!

Hat nach all den Torturen wenigstens die liebe Seele ihre Ruh? Für die Intimchirurgie hat das bisher noch niemand untersucht. Der Bochumer Psychologe Jürgen Margraf stellte jedoch in einer Studie fest, dass die allermeisten Patienten nach einer gewöhnlichen Schönheitsoperation zufriedener sind als vorher - und zwar lang anhaltend. Gleichwohl warnen Fachleute, die Seele nicht aus dem Blick zu lassen, bevor das Skalpell angesetzt wird.

Sollte eine tiefere psychische Problematik hinter dem Wunsch nach einer Genital-OP stecken, eine Depression etwa oder eine narzisstische oder sexuelle Störung, dann sei zu erwarten, dass sie mit dem Stück Schamlippe nicht wegoperiert wird. Sie bleibe vielmehr erhalten oder werde womöglich sogar chronisch, "wenn sie nicht aufgedeckt und thematisiert wird", warnt der Gynäkologe Klaus Friese.

40 Ärzte sitzen nun im Leipziger Ballsaal und schauen auf eine Leinwand. Dort läuft die Liveübertragung aus mehreren Operationssälen, das sieht ein bisschen aus wie die Formel 1 auf RTL - mit Splitscreen und Livekommentar. "Uta, hörst du uns jetzt?", fragt der Moderator. Uta Schlossberger bejaht. Dann kündigt die Dermatologin an, sogleich einen G-Punkt zu unterspritzen. Der Moderator sagt, die Operationsmethode sei umstritten, "aber die Uta ist eine, die sagt: Für mich zählen die Ergebnisse." Schlossberger erzählt, sie habe viele Patientinnen "aus der Erotikbranche, die sagen, ich will was für mich tun; die teilweise sogar sagen: Das gehört zu meinem Job."

Wer mit Intimchirurgie sein Geld verdient, setzt seine Werkzeuge auch schon mal an imaginären Punkten an. Die Spritze mit Fettgewebe unter den G-Punkt soll bewirken, dass er größer und dicker wird - das könne mehr Lust erzeugen, locken Intimchirurgen. Ein Versprechen, das der Berliner Frauenarzt Heribert Kentenich aberwitzig und skurril findet. "Dass es diesen Punkt gibt, ist alles andere als bewiesen", sagt er. "Und was ist denn das überhaupt für eine reduzierte Sicht auf die menschliche Sexualität, wenn diese auf einen ein Quadratzentimeter großen Fleck zurückgeführt wird?"

Für viele Ärztinnen ist der Trend absurd: Da haben Frauen 40 Jahre lang für mehr sexuelle Freiheit und Selbstbestimmung gekämpft, haben ihre Genitalien mit Stolz untersucht und im Spiegel betrachtet, statt sie zu verstecken - und dann das. "Die Realität hat die Forderungen der Frauenbewegung längst überholt", sagt die Ärztin und Publizistin Susanna Kramarz resigniert. Die Revolution, sie habe ihre Kinder gefressen.

Frauen wollen untenrum jetzt wie "Brötchen" aussehen. So sagen das die Schönheitschirurgen oder sprechen, wie Marwan Nuwayhid, vom "juvenilen Look". Ziel ist eine Vulva, die an die obere Hälfte eines von Meisterhand ebenmäßig geformten Backwerks erinnert. Glatte äußere Schamlippen, die die inneren fest umschließen. Wie bei einem Mädchen vor der Pubertät. "Es geht um die Optimierung zur Kindfrau, wobei patriarchale Vorstellungen von Reinheit und Jungfräulichkeit reaktiviert werden", sagt die Soziologin Anna Katharina Meßmer, die an der Universität München über Intimchirurgie promoviert. "Die Idee eines ,Zuviel' weiblicher Sexualität, die es zu zähmen gilt, schwingt dabei mit."

Doch trotz dieser Problematik bergen Intimoperationen in Meßmers Augen "auch ein Emanzipationspotenzial". Etwa wenn Frauen sich nur durch solche Eingriffe dazu in der Lage fühlen, eine selbstbewusste Sexualität zu leben. Die Leidensgeschichten von Frauen sollten ernst genommen werden, fordert die Soziologin. "Eine pauschale Verurteilung von Intimoperationen verhindert keine weiteren Eingriffe, aber sie verhindert einen reflektierten und informierten Umgang damit."

Mehr Aufklärung fordert deshalb Heribert Kentenich. Er glaubt, dass viele Frauen ihre Vorstellungen dann relativieren. "So sehen Schamlippen aus", erklärt er Patientinnen, die in seiner Praxis den Wunsch nach einer Operation äußern, anhand von Schaubildern. Labien könnten groß sein oder klein, runder oder spitzer, das alles sei normal. Dann erklärt er den Frauen, dass ihre Beschwerden oder Schmerzen aller Wahrscheinlichkeit nach nichts mit der Anatomie ihres Genitalbereichs zu tun haben. "Sonst müsste ja jeder Mann Schmerzen beim Radfahren haben." Und wenn die Frauen dann immer noch eine Operation wollen? "Dann wird operiert", sagt Kentenich. "Aber viele kommen gar nicht wieder."

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