Interview zur Gewalt gegen Kinder:"Armut führt zu mehr Misshandlungen"

Die Zahl sozial benachteiligter Menschen in Deutschland wächst. Dadurch steigt auch das Risiko von Gewalt gegen Kinder, warnt der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers.

Markus C. Schulte von Drach

Kindesmisshandlungen werden in der Öffentlichkeit meist erst wahrgenommen, wenn es sich um spektakuläre Fälle handelt - wenn Kindern die Rippen gebrochen oder sie zu Tode geschüttelt wurden. Doch Misshandlung fängt bereits viel früher an.

Gewalt gegen Kinder, Kindesmisshandlung

Mindestens eine Million Kinder werden in Deutschland regelmäßig misshandelt.

(Foto: Foto: iStock)

sueddeutsche.de: Gilt eine Ohrfeige bereits als Kindesmisshandlung?

Heinz Hilgers: Als Kindesmisshandlung gilt jede Gewaltanwendung, die zu kurz-, mittel- oder langfristigen Schäden führen kann. Da gehört die Ohrfeige dazu.

sueddeutsche.de: Wie häufig werden Kinder in Deutschland misshandelt?

Heinz Hilgers: Wir rechnen damit, dass eine Million Kinder schwer misshandelt werden, weil sie regelmäßig mit Gegenständen geschlagen werden - etwa mit einem Gürtel oder Stock.

sueddeutsche.de: Und wie oft wird mit der Hand zugeschlagen?

Hilgers: Das ist schwer zu sagen. Die Kriminalstatistik ist wenig aussagekräftig. Die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher als die Zahl der angezeigten Fälle. Unsere Erkenntnisse beruhen vor allem auf Befragungen von Jugendlichen. Aber es wird viel zu wenig geforscht.

sueddeutsche.de: Hat sich in den letzten Jahren etwas verändert?

Hilgers: Seit das Recht auf gewaltfreie Erziehung im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert ist, sind Misshandlungen von Kindern tatsächlich zurückgegangen. Das gilt aber vornehmlich für Familien in guten finanziellen Verhältnissen. Es gilt nicht für diejenigen, die auf Sozialhilfeniveau leben. Hier nimmt die Häufigkeit von Misshandlungen sogar zu, weil es immer mehr von Armut betroffene Familien gibt.

sueddeutsche.de: Es gibt also einen Zusammenhang zwischen Armut und Kindesmisshandlung?

Hilgers: Schwere Misshandlungsfälle spielen sich fast alle im ärmeren Milieu ab. Es wäre aber völlig falsch zu sagen, wer arm ist, schlägt seine Kinder. Es gibt ganz viele arme Eltern, die sich liebevoll kümmern, die alles für ihre Kinder tun.

sueddeutsche.de: Aber . . .

Hilgers: Aber in dieser Schicht ist der Stress durch permanente Überforderung im Alltag sehr hoch. Hinzu kommt mangelnde Erziehungskompetenz. Es kommt häufiger zu Ausrastern - insbesondere bei denen, die als Kinder selber nichts anderes erlebt haben. Da wird der Nachwuchs anfangs mit einem leichten Klapps bestraft, weil er nicht auf Anweisungen hört. Verändert das Kind sein Verhalten nicht, kann sich die Gewaltanwendung bis zur Eskalation steigern.

sueddeutsche.de: Es kommen viele Ursachen zusammen.

Hilgers: Ja. Übrigens spielt auch das Fernsehen eine Rolle, das bei vielen Problemfamilien den ganzen Tag läuft. Dort wird Gewalt häufig als Lösungsstrategie vorgeführt.

sueddeutsche.de: Es gibt viele alleinerziehende Eltern, die häufig unter einer besonders großen Belastung stehen: Sie müssen ein Kind großziehen und zugleich arbeiten gehen . . .

Hilgers: Mehr als 20 Prozent der Kinder werden von einem Elternteil erzogen oder leben in sogenannten Patchwork-Familien. Ja, es ist absolut richtig: Alleinerziehende haben größere Schwierigkeiten, den Alltag zu bewältigen, als Paare.

sueddeutsche.de: Ist das Risiko von Kindesmisshandlungen durch Alleinerziehende dann auch höher?

Hilgers: Man kann nicht einfach sagen, dass jemand ein Kind misshandelt, weil er oder sie allein erzieht. Die Betroffenen machen jedoch einen großen Teil derjenigen aus, die in Armut leben. Sie stehen unter einer besonders hohen psychischen Belastung. Das kann, zusammen mit anderen Faktoren, zu schweren Fehlern in der Erziehung führen.

sueddeutsche.de: Was könnte getan werden, um gezielt Misshandlungen vorzubeugen?

Hilgers: Wir brauchen Netzwerke früher Förderung: Bildungs- und Gesundheitswesen, Familienpolitik und Jugendhilfe müssen zusammengebracht und lokal die richtigen Maßnahmen entwickelt werden, die der Misshandlung entgegenwirken können.

sueddeutsche.de: Ist der Schutz der Kinder auch ein weiteres Argument dafür, mehr Krippen- und Kindergartenplätze zu schaffen?

Hilgers: Ja. Wir haben über Jahre hinweg eine sehr einseitige Diskussion geführt. Krippen und Ganztagsplätze in Kindertagesstätten und Schulen wurden gefordert, damit Eltern Familie und Beruf miteinander vereinbaren können.

Es ist aber auch der Kinder wegen wichtig, dass sie einen Platz in einer Krippe, Kindertagesstätte oder einer Ganztagsschule finden. Damit sie in einem anregungsreichen Umfeld aufwachsen, Kontakt zu anderen Kindern sowie Bewegungserziehung und kulturelle Bildung bekommen. Dinge, die sonst durch Eltern gewährleistet werden, die sich die Beiträge für die Musikschule oder den Sportverein leisten können.

sueddeutsche.de: Was versprechen Sie sich von den Ankündigungen von Frau von der Leyen, die Zahl der Krippenplätze zu erhöhen?

Hilgers: Ich hoffe, der Ausbau erfolgt mit vernünftiger Qualität. Und ich hoffe, dass die Angebote nicht nur für diejenigen zur Verfügung stehen werden, die sich die Gebühren leisten können.

sueddeutsche.de: Was halten Sie von dem Vorschlag, ein Betreuungsgeld zu zahlen?

Hilgers: Wenn wir Problemfamilien helfen wollen, ist die Idee kontraproduktiv. Wir haben im Westen in vielen Städten nur für ein bis drei Prozent der Kinder Krippenplätze. Aber zehn bis 15 Prozent aller Kinder brauchen erzieherische Hilfe. Dieses Problem blendet das Betreuungsgeld völlig aus.

sueddeutsche.de: Welche Maßnahmen zum Schutz der Kinder und der Unterstützung der Familien in Deutschland halten Sie über die Krippen und Tagesstätten hinaus für notwendig?

Hilgers: Wir brauchen ein einheitliches Kindergeld. Wir geben Unterhaltsvorschuss an Alleinerziehende, Bafög und etliche weitere Einzelleistungen. Wenn wir das alles abschaffen und stattdessen ein Kindergeld von 300 Euro für alle zahlen, ist das Problem erledigt.

sueddeutsche.de: Halten Sie das für realistisch?

Hilgers: Ja. Und diese ganze Bürokratie hätten wir auch vom Hals.

Heinz Hilgers (59) ist Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes. Er ist Bürgermeister von Dormagen und selbst Vater von drei Kindern.

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