Süddeutsche Zeitung

Interview zu Obdachlosigkeit:"Für manche bin ich der letzte Strohhalm"

Lesezeit: 5 min

Helmut Brox, obdachlos seit 24 Jahren, betreibt eine Website mit Tipps für das Leben auf der Straße. Ein Gespräch über Misstrauen und darüber, was den Armen im Land wirklich helfen würde.

Sarina Pfauth

Helmut Richard Brox lebt seit 24 Jahren auf der Straße. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er abwechselnd in Heimen, bei Pflegeeltern und seiner leiblichen Familie. Gewalterfahrungen gehörten schon früh zu seinem Leben. Vor einigen Monaten wurde Brox auf der Straße im Schlaf von Jugendlichen überfallen und schwer an der Wirbelsäule verletzt. Mit den gesundheitlichen Folgen kämpft er immer noch. Richard Brox ist 46 Jahre alt und betreibt eine Website, auf der er Tipps für Obdachlose gibt und Adressen von Anlaufstellen für Menschen in Not sammelt. Ein Gespräch.

sueddeutsche.de: Herr Brox, Sie betreiben eine Webseite für Obdachlose. Wie kommen denn Menschen ohne Wohnung an einen Computer?

Helmut Richard Brox: Von zehn Berbern, also Langzeitobdachlosen, waren vier noch nie online, würde ich sagen. Von den restlichen sechs gehen drei mehr oder weniger regelmäßig ins Internet und die anderen drei sind ständig online. In vielen Büchereien und Obdachloseneinrichtungen kann man umsonst surfen. Oder man fragt einen Sozialarbeiter, ob man an seinem Computer Mails checken darf. Wer online gehen will, kann das auch.

sueddeutsche.de: Wie haben Sie gelernt, eine Internetseite zu gestalten?

Brox: 1999 war ich in Berlin bei einer Notübernachtung. Tagsüber musste man da raus. Es war ein Sonntag im Herbst, und es hat in Strömen geregnet, ich war pudelnass. Ich hatte nur vier Mark bei mir und habe mir überlegt, wo ich mich schnell trocknen lassen kann. In der Nähe vom Ku'damm gab es ein riesiges Internetcafé, da hab ich gelesen: Eine Stunde Internet - eine D-Mark. Dann habe ich entschieden, mich da für drei Mark drei Stunden reinzusetzen, weil ich dachte: Danach bist du dann wieder trocken.

sueddeutsche.de: Und da drin haben Sie sich alles selbst beigebracht?

Brox: Der junge Kerl hinterm Tresen hat mir ein Terminal zugewiesen, aber ich habe ihm gleich gesagt: Ich kenne mich da überhaupt nicht aus. Er meinte dann, ich soll mich mal nach hinten zu einer Gruppe Jungs setzen, die würden mir das schon erklären. Plötzlich war ich mitten im Kreis vom Chaos Computer Club Berlin. Ich hatte Glück, weil die haben mir beigebracht, wie man E-Mails schreiben kann und so. Wenn ich später nicht weiterwusste bei Computerproblemen, durfte ich denen immer mailen. Mittlerweile bin ich geübt und schreibe sogar Mehrfingersystem. Manchen Berberkollegen gebe ich inzwischen auch Computerunterricht, und manchmal fragen mich auch Sozialarbeiter.

sueddeutsche.de: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine Webseite für Obdachlose zu gestalten?

Brox: In den über 20 Jahren, die ich jetzt auf der Straße lebe, haben mir viele Menschen geholfen. Ohne die würde ich heute vielleicht gar nicht mehr leben. Als Dank hierfür wollte ich etwas zurückgeben. Deshalb organisiere ich als Betroffener eine Art Selbsthilfeforum. Um anderen zu zeigen, dass es Wege aus der Not heraus gibt. Dass man sich selbst ein bisschen auf die Beine stellen muss, um da rauszukommen. Ich habe mich damit aber auch etwas in die Nesseln gesetzt.

sueddeutsche.de: Warum denn?

Brox: Manche werfen mir Verrat vor. Es ist so, dass man nicht jedem auf der Straße sagt, was man weiß. Nur denen, die einem sympathisch sind. Ich wollte aber etwas für alle machen, auch wenn es auf der Straße viele gibt, die ich nicht mag, manche meide ich sogar. Aber wenn man anderen helfen kann, dann muss man das auch tun. Deshalb habe ich dieses Schweigen gebrochen und Insiderwissen preisgegeben. Ich habe mir damit schon Feinde gemacht. Aber es gibt auch viele, die das Gegenteil sagen.

sueddeutsche.de: Was findet man auf Ihrer Internetseite?

Brox: Es gibt für Obdachlose gute und fürchterliche Einrichtungen. Der Urgedanke meiner Seite war, dass man dort eine gute Hilfestelle finden kann, und zwar egal, in welcher Region Deutschlands man sich gerade befindet. Ich habe circa 500 Adressen gesammelt und die nach Bundesländern im Alphabet geordnet.

sueddeutsche.de: Waren Sie schon an allen diesen Orten?

Brox: Ich bin seit 1986 obdachlos und viel rumgekommen. Einen Großteil der Einrichtungen kenne ich deshalb selbst und bin dort aktenkundig. Aber ich bin auch auf die Unterstützung von Berberkollegen angewiesen.

sueddeutsche.de: Finden Ihre Tipps Anklang?

Brox: Mein Besucherzähler sagt, dass am Tag ungefähr 150 Leute meine beiden Seiten anklicken. Aber das ist nicht so wichtig, es reicht ja, wenn nur einem geholfen wird. Mittlerweile bescheinigen mit viele per E-Mail, dass ich eine gute Arbeit mache, und viele suchen Hilfe bei mir per Mail. Nicht nur Obdachlose.

sueddeutsche.de: Worum bitten die Leute Sie?

Brox: Ich hab sehr viele Anfragen von Personen, die Angst haben, obdachlos zu werden. Manchmal wirkt es so, als ob ich für die ihr letzter Strohhalm bin. Manche haben auch Angst um andere. Zum Beispiel habe ich einen Hilferuf von einer verzweifelten Mutter erhalten, die ihren Sohn sucht und befürchtet, dass er in der Obdachlosenszene ist und mich gebeten hat, ihn ausfindig zu machen.

sueddeutsche.de: Hat sich schon jemand bei Ihnen zurückgemeldet, dem Sie weiterhelfen konnten?

Brox: Vor einem Dreivierteljahr hat mir ein Obdachloser aus München geschrieben, dass er einfach nicht mehr weiterweiß. Er war vom Amt enttäuscht, und auf der Platte haben Ordnungsbedienstete seinen Platz leer geräumt, weil sie seine Sachen für Müll gehalten haben - dann war alles weg, sein Schlafsack und sein Zelt. Ich habe ihm gesagt: Geh doch in die Zenettistraße! Diese Einrichtung hat ihm dann einen betreuten Wohnplatz organisiert. Und inzwischen hat er eine Arbeit gefunden, gerade hat er sogar einen Jahresvertrag bekommen.

sueddeutsche.de: Was ist Ihr nützlichster Tipp für Menschen, die auf der Straße landen?

Brox: Wenn man seine Wohnung verliert, sollte man zuerst mal zur Bahnhofsmission gehen und dort und nach Anlauf- und Beratungsstellen fragen. Falls es keine gibt, empfehle ich zu einer Beratungsstelle der Caritas oder der Diakonie zu gehen. Dort gibt es bessere Tipps als auf Sozialämtern.

sueddeutsche.de: Haben Sie eine Lieblingsstadt in Deutschland?

Brox: In Kassel zum Beispiel ist das Hilfeangebot sehr umfangreich. Und in Schongau in Bayern gibt es eine Wohnkolonie für Obdachlose, die ist sehr gut, da findet man Arbeitsmöglichkeiten und kann sogar eine Ausbildung machen. Es gibt aber auch Negativbeispiele: In manchen Einrichtungen gibt es Mehrbettzimmer im Keller, wo sich 30 Mann eine Dusche teilen und die Matratzen mit Kot verschmutzt sind. Und wo Obdachlose gerne gegängelt werden, um sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Das Signal ist klar: Hau ab, du hast hier nichts zu suchen.

sueddeutsche.de: Was wäre aus Ihrer Sicht wichtig für die Obdachlosen in Deutschland?

Brox: Ohne Halt geht nichts und diesen Halt muss man erst einmal bieten, und zwar durch Angebote. Dann haben die Leute wirklich Möglichkeiten, aus dem Elend herauszukommen. Und langfristig wieder ein bürgerliches Leben zu führen. Der Traum vieler Obdachlosen ist nämlich, ein bürgerliches Leben zu führen - das bedeutet Arbeit, Wohnung, Partnerschaft, Kollegen, Wurzeln. Diese Möglichkeit haben aber viele aus den Augen verloren - und es gibt viele Einrichtungen, die einem nicht weiterhelfen. Es geht mir darum, dass jeder Mensch die Chance bekommt, zurück ins Leben zu finden. Dafür brauchen Obdachlose langfristige Hilfe.

sueddeutsche.de: Was wünschen Sie sich für Ihr eigenes Leben?

Brox: Dass ich rauskomme aus diesem Sumpf. Ich würde gerne an einem Ort in Ruhe und Frieden leben, an dem ich willkommen bin. Denn Stress und Ärger habe ich auf der Straße genug. Mein größter Wunsch wäre, eine Wohnung zu haben in einer größeren Stadt und eine Arbeit und eine normale Versicherung. Ich würde zum Beispiel sehr gerne in einer Obdachlosenberatung arbeiten und dort mein Wissen einbringen. Oder eine Notunterkunft leiten. Dann könnte ich vielleicht sagen, dass ich einen Schlussstrich unter die Straße ziehe.

sueddeutsche.de: Warum hat das noch nie geklappt bei Ihnen?

Brox: Mich hat noch nie jemand wirklich ernst genommen und gesagt: Du kannst was. Wenn ich sage, ich würde gerne im Obdachlosenmilieu arbeiten, dann fragen immer alle: Ja, trauen Sie sich das denn zu? Was haben Sie denn gelernt? Da ist ein solches Misstrauen, dass es nie klappt. Aber einer hat mal zu mir gesagt: Das, was du machst, ist einen Verdienstorden wert.

Helmut Richard Brox hat auf http://www.ohnewohnung-wasnun.de/ viele Tipps für obdachlose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen zusammengestellt. Auf www.kurpfaelzer-wandersmann.de/ hat er seine eigene Lebensgeschichte aufgeschrieben - nachdem ihn viele User für einen Sozialarbeiter gehalten hatten, der sich als Berber ausgibt.

Die Pflege der beiden Internetseiten finanziert Brox durch Spenden und aus seiner eigenen Tasche. Wer das Obdachlosenportal finanziell unterstützen möchte, findet die Kontoverbindung von Helmut Brox auf seinen Websites im Impressum.

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