Interview mit Iris Radisch:"Ich finde nicht, dass alles easy ist"

Statt der Modellfamilie gibt es viele Familienmodelle. Nicht alle sind bunt und lustig, meint Iris Radisch, Buchautorin und Literaturkritikerin.

Interview: Gabriela Herpell

Die Mutter zweier Kinder hatte zwei Geschäfte, eines kleiner, eines größer, genau wie bei den Kindern: eines größer, eines kleiner. Abends kam sie nach acht Uhr zu ihren Kindern nach Hause, total kaputt natürlich. Ein paar Mal schon hatte sie so etwas wie Enttäuschung empfunden: darüber, dass die Kinderfrau die Kinder noch nicht im Bett hatte. Eines Tages, als es wieder so war, die Enttäuschung also wieder in ihr hochkroch und das schlechte Gewissen dazu, befand sie: So konnte es nicht weitergehen. Nun hängt ein Schild an dem großen Laden: zu verkaufen. Und die Bekannte bringt ihre Kinder wieder selbst ins Bett. "Elternschaft ist weiblich. Und Familienschiffbrüche sind seit ein paar Jahrzehnten Legion", schreibt Iris Radisch. "Den meisten Frauen, die ich kenne, ist es passiert. Und sehr viele Männer, die mir begegnen, haben einen Bankdauerauftrag." Radisch, 47, Literaturkritikerin der "Zeit" und Buchautorin, hat drei Kinder von zwei Männern.

Interview mit Iris Radisch: Iris Radisch und ihr Buch über die Familie: "Die Schule der Frauen. Wie wir die Familie neu erfinden.", DVA.

Iris Radisch und ihr Buch über die Familie: "Die Schule der Frauen. Wie wir die Familie neu erfinden.", DVA.

(Foto: Foto: dpa)

SZ Kinderleben: Frau Radisch, Sie sind keine Freundin der Teilzeitarbeit von Müttern. Warum?

Iris Radisch: Es ist die klassische Frauenlösung. Damit verzichten die Frauen auf die Hälfte ihrer Arbeitsstelle, die Hälfte ihrer Rentenansprüche, die Hälfte ihrer berufl ichen Entwicklung und ganz nebenbei auch noch auf die Hälfte ihres Gehalts. Man muss etwas fordern, was die Frauen nicht aus dem Beruf drängt, ihnen die sozialen Sicherheiten nicht nimmt.

SZ Kinderleben: Sie haben mit kleinen Kindern Vollzeit gearbeitet und fanden das nicht ideal.

Radisch: Weil es keine Vereinbarkeit von Beruf und Kindern gibt, sondern nur etwas zu addieren. Ich habe erfahren, wie es ist, alles machen zu müssen. Es war extrem, aber es geht ja irgendwie immer. Ich war noch Jahre danach davon erschöpft.

SZ Kinderleben: Ist die Erschöpfung jetzt wieder weg?

Radisch: Ich fühle mich wieder ausgeschlafen. Meine Kinder sind elf, neun und fünf Jahre alt.

SZ Kinderleben: Ist die Erschöpfung der Preis, den vor allem die Frauen zahlen?

Radisch: Meistens, aber ich habe auch schon Väter gesehen, die denselben Preis bezahlen. Diese Eltern sind an der Grenze, kurz vor dem Zusammenbruch, auch wenn man ihnen das nicht ansieht. Die Familiensituation ist die schwierigste, die wir - bis auf die Klimakatastrophe - überhaupt zu meistern haben. Es ist mörderisch, was wir gerade machen. Und dann ärgert es mich, wenn Männer meinen, dem Problem mit dem Appell an die "Natur der Frau" begegnen zu können. Ebenso ärgert mich die Gegenpropaganda von Frauen, die alles so toll auf die Reihe kriegen. Die Frau Generalanwältin mit sieben Kindern und alles läuft super. Das glaube ich nicht.

SZ Kinderleben:Wollten Sie immer Kinder haben?

Radisch: Ja. Eigentlich war ich mir immer sicher, obwohl ich nie etwas geplant habe. Mein Leben war voll mit Ausbildung, mit Arbeit, doch eines Tages kam das Gefühl, das kann nicht alles sein. Und da war das Kinderkriegen dran, weil es zum Leben gehört wie das Sichverlieben, das Atmen und das Sterben.

SZ Kinderleben: Als Sie jung waren, gab es da einen Lebensentwurf, den Sie gut fanden?

Radisch: Es gab keine Vorbilder. Wir waren und sind auf der ewigen Suche nach unserer Rolle. Wir haben uns treiben lassen, haben wenig defi niert oder refl ektiert. Die Entscheidung, Kinder zu haben, ist die einzige, die ich getroffen habe. Den Rahmen dazu habe ich mir nicht überlegt, ich habe gehofft, der stellt sich dann schon ein. Das war sehr blauäugig. Erst als ich das Buch schrieb, habe ich Distanz zu meinem eigenen Leben hergestellt. Und mir ist klar geworden, dass wir keine historischen Vorbilder haben.

SZ Kinderleben: Der Vater Ihrer beiden älteren Töchter ist vor der Geburt der zweiten weggegangen. Es muss bitter sein festzustellen, dass die Beziehung, die man lange hatte, die Kinder nicht überlebt.

Radisch: Man hört das häufig. Gerade wenn eine Beziehung ohne Kinder so lange gut war, aber auf ihre Art eingefahren, funktioniert sie nicht mit Kindern. Wir waren ein bisschen wie auf einer Isolierstation. Ich kannte nur Leute meines Schlags: kinderlos, hochspezialisiert, die auf Matratzen schliefen, über Platon diskutierten und ewig Kind blieben.

"Ich finde nicht, dass alles easy ist"

Nächste Szene: Ein Restaurant in Hamburg. Ein Mädchen, 8 Jahre, das mit seinen Eltern dort isst, lernt ein gleichaltriges Mädchen k ennen. Die beiden verstehen sich blendend. Nur schade, dass das eine Mädchen im Rheinland wohnt. Die Hamburgerin gibt der Rheinländerin eine Telefonnummer, sagt: "Wenn du das nächste Mal mit deinen Großeltern in Hamburg bist, kannst du dich ja melden." Die Rheinländerin sagt: "Das sind meine Eltern." Iris Radisch, die selbst mit 36 zum ersten Mal Mutter wurde, erforscht in ihrem Buch die Gründe für die späte Elternschaft. Sie schreibt: "Es war kein Egoismus, sondern eine Mischung aus fi nanzieller Unselbstständigkeit, kindlichen Versorgungsansprüchen, alltäglicher Lebensunfähigkeit und allgemeiner Spintisiererei."

SZ Kinderleben: Was hat diese Generation so lebensuntüchtig gemacht?

Radisch: Der große Wohlstand. Der hatte natürlich auch viele Vorteile. Es war ein ungeheures Privileg, sich so intensiv mit Dingen beschäftigen zu können. Ich möchte diese Studienzeit nicht missen. Ich will nur erklären, warum wir so geworden sind und zum Teil keine Kinder mehr bekommen haben.

Dritte Szene: Glückliches Paar, beide sind Mitte dreißig, leben schon ein paar Jahre zusammen und werden bald heiraten. Sie sind erfolgreich im Beruf, verdienen genug für italienisches Design, Bademäntel von Versace, Abendessen außer Haus. Ungefähr vier Monate im Jahr steht ihre Wohnung leer, da sind beide verreist, fast immer berufl ich. Sie wünschen sich Kinder, das ist ganz sicher, sie wissen nur noch nicht, wann.

SZ Kinderleben: Sind Paare heute, wie die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim meint, in einer Planungsfalle?

Radisch: Man hat schon das Gefühl, dass die jüngeren Leute nicht so einfach etwas ausprobieren. Nichts bleibt dem Zufall überlassen, weil sie glauben, sie sind es sich und anderen schuldig, die Kontrolle zu behalten. Und sicher stimmt es: Aus der Entscheidungsfreiheit ist eine Pflicht geworden, eine Entscheidung zu treffen, die von der Gesellschaft goutiert wird.

SZ Kinderleben: Eine Mutter von 19 Jahren fällt aus der Norm. Da schauen die Leute, als wollten sie sagen: Musste das passieren?

Radisch: So ähnlich war das bei mir beim dritten Kind. Da dachten auch viele, das wäre keine Absicht gewesen. Drei Kinder entsprechen dem Zweckdenken ganz und gar nicht.

Szene vier: Die Patchworkfamilie. Die Mutter lebt mit dem Kind aus der ersten Beziehung (18), mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn (12) in einem Haus, in dem auch der Vater ihres ersten Kindes mit seiner neuen Familie lebt: Ehefrau, Tochter (13), Sohn (8). Beide Familien teilen sich einen Kombi, Weihnachten pendelt man zwischen zwei Wohnungen. Der große Sohn kann sich je nach Laune entscheiden: zwischen seinem leiblichen Vater und seinem Stiefvater. Klingt perfekt.

SZ Kinderleben:Frau Radisch, Sie stehen den neuen Familienformen ziemlich kritisch gegenüber.

Radisch: Nein, ich finde nur nicht, dass alle gleich bunt und lustig sind. Ich habe drei Familienformen erlebt, die klassische, die alleinerziehende und jetzt Patchwork. Ich finde nicht, dass alles easy ist.

SZ Kinderleben: Was spricht gegen Patchwork?

Radisch: Meine Töchter vermissen ihren Vater. Sie artikulieren das nicht so, aber man merkt es. Das ist ein Schmerz, den die dritte Tochter nicht hat.

SZ Kinderleben: Sie sagen, man sollte sich prüfen, bevor man auseinandergeht - und fordern, Verantwortung für Kinder zu übernehmen.

Radisch: Ich finde, manche machen es sich heute zu leicht und gehen einfach weg. Dann haben sie neue Beziehungen und diese neuen Beziehungen wirken nach kurzer Zeit genau wie die alten, es geht um Nuancen. Das hätten sie den Kindern nicht antun müssen.

SZ Kinderleben: Glauben Sie, dass die Menschen heute zu viel von der Liebe erwarten?

Radisch: Nein, das geht ja gar nicht. Von der Liebe kann man nicht genug erwarten. Die Liebe ist das Tiefste, was es gibt. Aber ich glaube, viele Leute erwarten das Falsche von der Liebe. Eine Art Wellness-Liebe. Im kapitalistischen Warenaustausch werden alle Bedürfnisse befriedigt. Heute hört es sich manchmal so an, als hätte man im konsumistischen Sinn als Liebes-Endverbraucher eine bestimmte Portion Glück verdient. Das kann nicht funktionieren. Dann braucht man ewig neue Ware..

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: