Interview am Morgen:"Japaner sind in Sachen Liebe eben pragmatisch"

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Nicht die Stadt der Liebe? Straßenszene aus Tokio. (Foto: Jason Ortego / Unsplash)

Jeder zweite Japaner ist Single, jeder zweite Single will überhaupt keine Beziehung. Buchautor Felix Lill im "Interview am Morgen" über eine desillusionierte Generation, die alleine zum Hochzeitsfoto­gra­fen geht.

Von Johanna Bruckner

Wenn New York als Stadt der Singles gilt, dann hat Japan den Ruf, das Land der Alleinstehenden zu sein: Jeder Zweite hat keinen Partner - Männer noch häufiger als Frauen. Und etwa die Hälfte von ihnen will keinen. Doch im Gegensatz zu den Singles im Big Apple kommen Japans Junggesellinnen und Junggesellen weniger gut weg. Von "parasitären Singles" war jüngst zu lesen - gemeint sind Alleinstehende zwischen 35 und 54, die sich langfristig bei den Eltern eingenistet haben. Viereinhalb Millionen solcher Nutznießer soll es in Nippon geben.

Was steckt hinter diesen Zahlen? Haben Liebe und Sex ausgedient in Japan? Der Journalist Felix Lill hat fünf Jahre in Tokio gelebt und sich auf die Suche nach Antworten gemacht. Seine Erkenntnisse hat er in seinem neuen Buch "Einsame Klasse. Die Zukunft gehört uns Singles" veröffentlicht, das im Verlag edition a erschien.

SZ: Herr Lill, Sie sagen "Westliche Gesellschaften können von Japan lernen, die Liebe nicht so wichtig zu nehmen" - das müssen Sie erklären.

Felix Lill: In westlichen Gesellschaften hat die Liebe den Status einer Ersatzreligion. Sie ist ständig Thema, ob man in einer Beziehung ist oder nicht. Single sein ist für kurze Zeit okay, wer aber länger keinen Partner hat, dem wird ein Mangel unterstellt - als sei Alleinleben kein wertvoller Lebensentwurf. Zudem ist die Liebe mit Erwartungen und ungeschriebenen Regeln belegt. Das Bekenntnis "Ich liebe dich" etwa wird irgendwann zum selbstvergewissernden Ritual. Wirklich Bedeutung hat der Satz nur noch, wenn er nicht mehr ausgesprochen wird. In Japan hingegen hat Liebe für viele nicht die höchste Priorität, schon gar nicht ist sie religiös konnotiert.

Einer der Single-Protagonisten in Ihrem Buch sagt: "Wir erleben keine riesigen Enttäuschungen und werden nicht verbittert. Es ist doch nicht so schlecht, so zu leben, oder?" Das klingt, als hätte Japan Angst vor der Liebe.

Angst ist ein zu starkes Wort. Ich würde sagen: Es gibt bei Teilen der Bevölkerung eine gewisse Ernüchterung in Bezug auf romantische Ideale. Ein junger Mann hat mir erzählt, dass er auf keinen Fall eine Ehe wie seine Eltern führen will. Er ist insofern ein typischer Vertreter seiner Generation, weil er mit Kulturimporten aus dem Westen aufwuchs - Hollywood-Filme, die bestimmte Vorstellungen von Liebe und Beziehung wecken. In seiner eigenen Familie hat er jedoch erlebt, dass diese Ideale der Realität nicht standhalten. Ein japanischer Lebensversicherer hat erhoben, wie lange sich verheiratete Paare täglich unterhalten: 40 Prozent der Befragten sprachen durchschnittlich weniger als 30 Minuten miteinander.

Also lieber gar keine Liebe, als eine, die enttäuscht? Es gäbe ja auch die Option, es besser zu machen als die eigenen Eltern.

Durch die westliche Brille betrachtet, ist man geneigt zu sagen: Junge Japaner sind zu bequem. Es besser zu machen, ist nun mal mit Arbeit verbunden, zudem sind die Erfolgsaussichten ungewiss. Womöglich spielt Bequemlichkeit tatsächlich eine Rolle - ich würde das aber nicht als schlechte Eigenschaft bezeichnen. Dass man etwas scheut, bei dem der Aufwand zu groß erscheint, ist ja rational begründet. Japaner sind in Sachen Liebe eben pragmatisch. Und obwohl sich auch hier Eltern wünschen, dass die Tochter oder der Sohn heiratet und eine Familie gründet, ist Liebe etwas sehr Privates. Man muss sich in diesem Kulturkreis weniger erklären, wenn man beschließt, alleine zu bleiben.

Hierzulande scheint die Dauer-Konfrontation mit dem Hollywood-Kitsch eher dazu geführt zu haben, dass romantische Ideen zurückkehren. Man verlobt sich zum Beispiel wieder häufiger.

Ich habe den Eindruck, dass bei uns die Scheu groß ist, Liebe zu entmystifizieren. Wobei es auch in Japan nach wie vor das klassische Narrativ gibt: Ein Leben gilt als gelungen, wenn man einen Partner gefunden und eine Familie gegründet hat. Gerade ältere Generationen - die heute noch an den entscheidenden Stellen in Politik und Gesellschaft sitzen - propagieren dieses Bild. So haben sie es selbst gelebt. Im Gegensatz zu ihren Kindern und Enkeln haben sie sich nie mit der Frage auseinandergesetzt, ob ihre Ehe gut oder schlecht ist. Alleinsein, allein leben wird von vielen älteren Japanern mit Versagen assoziiert. So gesehen erlebt Japan gerade eine gesamtgesellschaftliche Revolution des Scheiterns.

Der Journalist Felix Lill, Autor von "Einsame Klasse. Die Zukunft gehört uns Singles". (Foto: Motockney Nuquee)

In Japan ist das Computerspiel "Love Plus" sehr beliebt, das den Spieler eine virtuelle Liebesbeziehung erleben lässt. Wie erklären Sie sich den Erfolg?

Das Spiel spricht die Generation Smartphone an. Junge Leute sind es gewohnt, digital zu kommunizieren, im direkten Kontakt mit einem Schwarm haben sie hingegen Defizite. Ein virtueller Partner kommt ihnen da entgegen. Das Spiel konnte auch deshalb so groß werden, weil man in Japan die Liebe nicht so ernst nimmt. Es ist okay, eine Liebesbeziehung am Computer nachzubauen und das Produkt zu verkaufen. Es gibt übrigens Leute, die "Love Plus" gerade deshalb kritisieren, weil man im Spiel immer wieder an die gleichen Punkte kommt wie in der Realität. Meine virtuelle Freundin Nene etwa hat sich irgendwann beschwert, dass ich nicht mehr so zärtlich sei wie am Anfang. Streicheleinheiten werden im Spiel per Tastendruck ausgeführt.

Das kann doch niemand ernstnehmen?

Oh doch. Akari Uchida, der Entwickler des Spiels, erzählte mir, dass er regelmäßig Dankesbriefe von Nutzern bekam, die ihn gewissermaßen als Schwiegervater sahen. Aber man muss sich darauf einlassen wollen, da gibt es einen kulturellen Unterschied. Für uns sind Menschen, die sich in einen Avatar verlieben, traurige Gestalten, die offenbar im echten Leben Probleme haben. Japaner sehen das anders. Nehmen Sie die Cosplay-Kultur. Wir würden sagen: Menschen, die sich als Phantasiefiguren verkleiden, sind lächerlich - außer vielleicht an Fasching. In Japan ist es gesellschaftlich akzeptiert, aus der Realität in alternative Welten abzutauchen.

Selbst die körperliche Liebe scheint viele Japaner nicht mehr zu reizen. Sie zitieren den japanischen Künstler Takashi Murakami, der gesagt hat: "Wir leben mehr und mehr ohne Sex, weil wir uns weiterentwickelt haben."

Das war eine kalkulierte Provokation - und eine krasse Verallgemeinerung. Selbstverständlich haben auch Japaner Sex. Aber Murakami spielt darauf an, dass man sich Dinge auch in der Vorstellung greifen kann. Man stellt sich etwas vor, das man in der Realität nicht hat, und ist möglicherweise schon mit dem Gedanken daran zufrieden.

Klingt sehr abstrakt.

Erinnern Sie sich an die Katzencafés, die vor einigen Jahren Schlagzeilen gemacht haben? In diese Richtung geht es. Zwei konkrete Beispiele: In Japan gehen manche, auch wenn sie nicht verheiratet sind, zum Hochzeitsfotografen und lassen sich als Braut oder Bräutigam fotografieren. Und wer romantische Stunden erleben will, kann einen sogenannten Host aufsuchen. Sie verkaufen vor allem Aufmerksamkeit und Zuneigung - eine Prostitution der Zärtlichkeit, wenn man so will. Wie bei allen Liebessubstituten sind es keine Massen, die das in Anspruch nehmen, das ist ganz wichtig zu betonen. Aber wer Bock darauf hat, macht es und fühlt sich dabei nicht blöd vor sich selbst. Es ist nicht peinlich. Die japanische Gesellschaft ist da flexibel, dafür empfinde ich Bewunderung.

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