An diesem Montag steht Geometrie auf dem Stundenplan. Linus hält ein Arbeitsblatt in die Kamera: Die technische Zeichnung eines Autos, die er übertragen sollte. "Super, gut gemacht", lobt sein Lehrer Christian Wiensgol und zieht mit einer Bewegung auf dem Mauspad eine Datei in das Chat-Fenster. Sekunden später ruckelt das Geräusch eines Tintenstrahldruckers aus Meckenheim nach Bochum. Das Videofenster zeigt Linus, wie er das neue Arbeitsblatt konzentriert mit dem Bleistift traktiert.
"Im Videochat sieht man sich, aber man schaut sich nie direkt in die Augen. Das hilft Asperger-Kindern, denn für sie ist Blickkontakt oft nur sehr schwer zu ertragen", sagt Wiensgol. Zum Ende der Schulstunde schickt Wiensgol Linus per Skype ein animiertes Party-Gesicht. "Linus findet es toll, sich mit Smileys zu unterhalten", erklärt der Lehrer. Die digitalen Gefühle sind einfacher zu deuten als die komplexen Gesichter der analogen Welt.
Lehrerkonferenz in der Webschule. Schulleiterin Sarah Lichtenberger sitzt vorne links.
(Foto: Lena Jakat)Rektorin Sarah Lichtenberger reißt ungeduldig ein Päckchen auf, das der Postbote gebracht hat. Es sind T-Shirts für die Schüler, die bald ihre Abschlussprüfung machen. Die Bochumer Einrichtung ist eine Privatschule, als staatlich zugelassene Fernschule darf sie weder Prüfungen abnehmen noch Noten vergeben. Ihren Förder-, Haupt- oder Realschulabschluss machen die Jugendlichen an Partnerschulen. 157 Schüler haben die Webschule bislang mit einem Abschluss verlassen, arbeiten heute als Koch, als Erzieher, im Hotel oder gehen weiter zur Schule. Durchgefallen ist noch niemand.
Unterricht erst per Mail, dann per Skype
Die Lehrer bereiten die Schüler gezielt auf den Abschluss vor; anfangs lief das hauptsächlich per E-Mail. Das hat sich seit 2004, als Lichtenberger die Schulleitung übernahm, grundlegend geändert. "Skype gab es vor acht Jahren noch gar nicht. Und auch die technische Kompetenz unserer Schüler hat wahnsinnig zugenommen. Heute müssen wir keinem mehr erklären, wie er den Computer einschaltet." Laut aktueller Kim-Studie - einer jährlichen Erhebung des medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest - nutzten 2012 mit 93 Prozent fast alle sechs- bis 13-Jährigen in Deutschland das Internet, gut ein Drittel war fast täglich online - ein Anstieg um zehn Prozent binnen zwei Jahren. Die mit Abstand beliebteste Seite im Netz ist Facebook. Das soziale Netzwerk entstand im selben Jahr, in dem Lichtenberger in der Webschule anfing.
Damals gab es acht Schüler, das Projekt ihres Vaters stand vor dem Aus. "Da habe ich die härteste Kaltakquise meines Lebens gemacht", sagt sie. Die Kaltakquise hängt gerahmt über einem Sofa in ihrem Büro: Bill und Tom Kaulitz, Tokio Hotel. Die Pädagogin surfte in Fanforen, fand die Adresse der Brüder heraus, schrieb der Mutter der beiden. Die rief zurück - und die Webschule wurde berühmt.
In Lichtenbergers Büro klingelt das Telefon. "Sie hat Depressionen und Schulangst?", fragt die Schulleiterin ins Telefon. "Wie alt ist sie?" Lichtenberger nickt, macht sich Notizen, stockt. "Nein, die Kaulitz-Brüder haben bei uns kein Abitur gemacht, sondern Realschulabschluss." Dass die Rede immer wieder auf das Popduo kommt, ist ermüdend. Zwar werden auch heute noch vereinzelt Jungschauspieler und angehende Sportprofis an der Webschule unterrichtet - doch die Hauptklientel ist eine andere.