Katja starrt in die Kamera ihres Laptops, beißt sich auf die Unterlippe. "Mhm. Ja." Sie hat verstanden, wie das funktioniert mit der Chromosomteilung. Vor einem anderen Laptop hält die Lehrerin Julia Wirth einen Bogen Papier in die Webcam. Mit grünem und rotem Filzstift hat sie Kreise und Xe darauf gemalt. Meiose und Mitose. Katja nickt aus Wirths Bildschirm. Die 16-Jährige sitzt in einem Bauernhaus im Ruhrgebiet etwa 40 Kilometer von ihrer Lehrerin entfernt. Doch das spielt keine Rolle, genauso gut könnte sie dort sein, in China, oder in Ungarn wie einige ihre Mitschüler. Es ist Montag, 8.15 Uhr. An der Internetschule in Bochum hat gerade der Unterricht begonnen.
62 Kinder und Jugendliche bereitet die Web-Individualschule auf den Schulabschluss vor. Aber die meisten von ihnen haben den geklinkerten Flachbau hinter dem Bochumer Hauptbahnhof noch nie betreten. Mit dem Comic-Hund an der Fassade und den hellen Fenstern, die Freundlichkeit in den regentrüben Morgen strahlen, erinnert das Gebäude eher an eine Kita. Die fünf Lehrer der Web-Individualschule unterrichten ihre Schüler via Skype, vor allem per Videochat, aber auch per Kurznachricht oder Facebook. Das Unterrichtsmaterial wird gemailt oder ganz altmodisch mit der Post geschickt. Es gibt keine festen Lehrpläne, die Stundenpläne werden von Lehrern, Schülern und Erziehungsberechtigten gemeinsam ausgearbeitet. Manche Schüler lernen eine Stunde am Tag, manche vier, manche unregelmäßig. Es ist eine besondere Schule für Schüler in besonderen Situationen.
Unter der transparenten Schreibtischunterlage in Julia Wirths Büro klemmen bunte Stundenpläne. Katja ist jeden Tag von 8.15 Uhr bis 13 Uhr online. Die Lehrerin blättert im Biologiebuch und blickt wieder in die Kamera. "Also, auf dieser Seite könntest du die Aufgaben 1 und 2 machen - und die 3, wenn du Lust hast." Katja nickt. "Und melde dich, wenn du Fragen hast, ja?" Das Mädchen mit den langen blonden Haaren wirkt wissbegierig, ehrgeizig.
Noch vor einem halben Jahr ging sie auf ein normales Gymnasium. Doch dann wurde der Hass der anderen zu viel. Katja wurde gemobbt, so lange, bis sie es nicht mehr aushielt. Bis sie aufhörte, zur Schule zu gehen. Die Mobbing-Erfahrung teilt Katja mit einigen ihrer Mitschüler. Andere sind durch einen Amoklauf in ihrer Schule traumatisiert, wieder andere sind jugendliche Straftäter, die sich jeder Regelschule verweigert haben. Gefährdete Kinder, die vom Jugendamt bei Gastfamilien im Ausland untergebracht wurde. Jugendliche, deren seelische oder körperliche Krankheit es ihnen ummöglich macht, in einem Klassenzimmer zu sitzen, und die sich morgens mit dem Laptop auf den Knien aus dem Krankenhaus melden.
Zwar verfügen inzwischen 99 Prozent aller Schulen in Deutschland über Computer, doch sind an Sekundarschulen nur drei Viertel von ihnen online, an Grundschulen noch nicht einmal die Hälfte. Oft stehen die Rechner noch immer in einem speziellen Medienraum. "Der damit verbundene Organisationsaufwand schreckt viele ab. Das ist ein echtes Hemmnis", sagt der Medienpädagoge Horst Niesyto von der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. "Dabei ist das eigentlich eine Geschichte von vorgestern. Was man bräuchte, sind mobile Lösungen: Medienwagen mit Laptops für die ganze Klasse. Schließlich dominieren mobile Geräte längst unseren Alltag." Immerhin 57 Prozent der Lehrer gehen zwar schon mal während der Schulstunden online. Doch über den Erwerb technischer Kompetenzen hinaus wird dem Lernen am Computer und im Netz kaum Bedeutung beigemessen. Zwar gibt es immer wieder Ausnahmen, aber insgesamt ist das deutsche Schulsystem internettechnisches Brach- um nicht zu sagen: Neuland.
Internet als Grundbedingung von Schule
Für die Bochumer Webschule dagegen, wo die Lehrer vor mit Aufklebern verzierten Notebooks statt vor Tafeln unterrichten, ist das Netz Grundbedingung für Schule. "Die Technik ist ein totaler Anreiz für unsere Schüler", sagt Sarah Lichtenberger. Die große blonde Frau mit der strengen Frisur und dem eleganten Auftreten - brauner, hellblau abgesetzter Blazer, passende Stiefeletten - leitet die Webschule. "Die finden das super, am Rechner zu lernen. Bis sie merken, dass es Schule ist, die da aus dem Computer kommt." Lichtenberger lacht. Überhaupt wird sehr viel gelacht hier in Bochum.
Diesen letzten Satz seiner Direktorin würde Linus wohl nicht recht verstehen. Der Achtjährige trägt einen Pulli, der aussieht wie eine Seite aus dem Lustigen Taschenbuch und sitzt gerade im rheinischem Meckenheim vor dem Rechner. Er ist Asperger-Autist. Mit Zwischentönen und Ironie weiß der rotblonde Junge ebenso wenig anzufangen wie mit dem Sozialgefüge einer Schulklasse. Wenn er sich im Unterricht unverstanden fühlte, fing er an zu schreien, versetzte so die ganze Klasse in Aufruhr. Seit einigen Monaten wird er in der Webschule unterrichtet. Und sitzt immer schon eine Viertelstunde vor Unterrichtsbeginn vor dem Rechner.
An diesem Montag steht Geometrie auf dem Stundenplan. Linus hält ein Arbeitsblatt in die Kamera: Die technische Zeichnung eines Autos, die er übertragen sollte. "Super, gut gemacht", lobt sein Lehrer Christian Wiensgol und zieht mit einer Bewegung auf dem Mauspad eine Datei in das Chat-Fenster. Sekunden später ruckelt das Geräusch eines Tintenstrahldruckers aus Meckenheim nach Bochum. Das Videofenster zeigt Linus, wie er das neue Arbeitsblatt konzentriert mit dem Bleistift traktiert.
"Im Videochat sieht man sich, aber man schaut sich nie direkt in die Augen. Das hilft Asperger-Kindern, denn für sie ist Blickkontakt oft nur sehr schwer zu ertragen", sagt Wiensgol. Zum Ende der Schulstunde schickt Wiensgol Linus per Skype ein animiertes Party-Gesicht. "Linus findet es toll, sich mit Smileys zu unterhalten", erklärt der Lehrer. Die digitalen Gefühle sind einfacher zu deuten als die komplexen Gesichter der analogen Welt.
Rektorin Sarah Lichtenberger reißt ungeduldig ein Päckchen auf, das der Postbote gebracht hat. Es sind T-Shirts für die Schüler, die bald ihre Abschlussprüfung machen. Die Bochumer Einrichtung ist eine Privatschule, als staatlich zugelassene Fernschule darf sie weder Prüfungen abnehmen noch Noten vergeben. Ihren Förder-, Haupt- oder Realschulabschluss machen die Jugendlichen an Partnerschulen. 157 Schüler haben die Webschule bislang mit einem Abschluss verlassen, arbeiten heute als Koch, als Erzieher, im Hotel oder gehen weiter zur Schule. Durchgefallen ist noch niemand.
Unterricht erst per Mail, dann per Skype
Die Lehrer bereiten die Schüler gezielt auf den Abschluss vor; anfangs lief das hauptsächlich per E-Mail. Das hat sich seit 2004, als Lichtenberger die Schulleitung übernahm, grundlegend geändert. "Skype gab es vor acht Jahren noch gar nicht. Und auch die technische Kompetenz unserer Schüler hat wahnsinnig zugenommen. Heute müssen wir keinem mehr erklären, wie er den Computer einschaltet." Laut aktueller Kim-Studie - einer jährlichen Erhebung des medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest - nutzten 2012 mit 93 Prozent fast alle sechs- bis 13-Jährigen in Deutschland das Internet, gut ein Drittel war fast täglich online - ein Anstieg um zehn Prozent binnen zwei Jahren. Die mit Abstand beliebteste Seite im Netz ist Facebook. Das soziale Netzwerk entstand im selben Jahr, in dem Lichtenberger in der Webschule anfing.
Damals gab es acht Schüler, das Projekt ihres Vaters stand vor dem Aus. "Da habe ich die härteste Kaltakquise meines Lebens gemacht", sagt sie. Die Kaltakquise hängt gerahmt über einem Sofa in ihrem Büro: Bill und Tom Kaulitz, Tokio Hotel. Die Pädagogin surfte in Fanforen, fand die Adresse der Brüder heraus, schrieb der Mutter der beiden. Die rief zurück - und die Webschule wurde berühmt.
In Lichtenbergers Büro klingelt das Telefon. "Sie hat Depressionen und Schulangst?", fragt die Schulleiterin ins Telefon. "Wie alt ist sie?" Lichtenberger nickt, macht sich Notizen, stockt. "Nein, die Kaulitz-Brüder haben bei uns kein Abitur gemacht, sondern Realschulabschluss." Dass die Rede immer wieder auf das Popduo kommt, ist ermüdend. Zwar werden auch heute noch vereinzelt Jungschauspieler und angehende Sportprofis an der Webschule unterrichtet - doch die Hauptklientel ist eine andere.
Für die meisten Schüler, die alle von der Schulpflicht befreit oder dauerhaft krankgeschrieben sein müssen, übernimmt das Jugendamt das monatliche Schulgeld von 787 Euro. "Wenn jemand zu uns kommt, ist das System Schule gescheitert", sagt Schulleiterin Lichtenberger. "Wenn das Sozialgefüge in der Schule die Kinder krank macht, bieten wir eine Alternative."
Fünf Jungs, ein Mädchen, eine erfolgreiche Patchwork-Familiengeschichte, dazu fünf Tagespflegekinder. Auf dem Bauernhof von Katjas Familie scheint das Sozialgefüge bilderbuchperfekt zu sein. Durch den Garten mit dem riesigen Trampolin streichen Pfaue, Shetland-Ponys, Kühe und Esel grasen dahinter auf einer Weide. Vom Schweinestall weht der passende Geruch in die Küche des großen Bauernhauses.
An den Herd gelehnt, rechts neben sich die Mutter, links den Vater und vor sich eine große metallene Tischplatte erzählt die Katja, wie sie zur Webschule kam.
"Am Anfang stand ein ganz belangloser Streit mit meiner besten Freundin. Völlig banal. Dann hat sie in der Klasse erzählt, was ich gesagt, was ich Blödes getan hätte. Und bald wussten alle genau Bescheid, was angeblich passiert war. Alle außer mir." Katja hatte viele Freunde, war Klassensprecherin. Sie hätte nie damit gerechnet, dass ihr so etwas passieren könnte. Sticheleien wurden zu Mobbing, die Streitschlichterin Katja zum Opfer. Die 16-Jährige spricht ruhig, routiniert. Allein ihre Finger, die rastlos das bunte Halstuch knüllen oder die pink lackierten Fingernägel knibbeln, verraten, was in ihr vorgeht. "Wenn andere Schüler früher zu mir als Klassensprecherin kamen, habe ich gesagt: 'Man muss auch einfach mal weghören.' Aber man kann nicht weghören. Nicht, wenn man die ganze Klasse gegen sich hat. Ich habe es am Anfang probiert. Es geht nicht."
An der Webschule gibt es mehrere Jugendliche, die Opfer von Mobbing wurden. "Als ich jung war, und mich auf einer Party daneben benommen habe, wurde vielleicht getuschelt. Aber das war schnell vorbei", sagt Pädagogin Lichtenberger. "Jetzt, in Zeiten von Facebook, schlagen diese Dinge viel höhere Wellen. Die Kinder haben keine Chance." Tatsächlich gaben in einer repräsentativen Studie jüngst 59 Prozent aller Kinder in Deutschland an, schon einmal schlechte Erfahrungen im Netz gemacht zu haben. "Wir versuchen dann, Selbstvertrauen aufzubauen, ihnen den Glauben wiederzugeben, dass sie kein Opfer sein müssen", sagt Lichtenberger. "Es hilft schon viel, wenn die Stresssituation und der Druck durch die Mitschüler nicht mehr da sind."
Als Katja es nicht mehr aushielt in ihrer Klasse, beschloss sie gemeinsam mit ihren Eltern, nicht mehr hinzugehen. Etwa ein halbes Jahr ist das her. Irgendwann will Katja wieder ins Gymnasium gehen, Abitur machen, studieren, Chirurgin werden. "Aber ich bin froh, dass ich bis dahin noch ein Weilchen habe", sagt sie. Erst einmal wird sie sich auf den Realschulabschluss im kommenden Mai vorbereiten. In ihrer Schule zu Hause.