Süddeutsche Zeitung

Integrationskurse:Was Zuwanderer über Deutschland lernen

Im Integrationskurs sollen jetzt auch Flüchtlinge auf das Leben in Deutschland vorbereitet werden. Aber kann man Gleichberechtigung lernen?

Von Anna Fischhaber

"Deutschland hat mir Selbstbewusstsein gegeben", sagt die Inderin im schwarz-weißen Tweed-Sakko. In ihrer Heimat hatte sie eine Nanny, eine Köchin, eine Gärtnerin. "Ich habe nichts selbst gemacht. Hier hat kaum jemand eine Haushaltshilfe. So musste ich lernen, alles alleine zu machen. Aber das war gut, ich weiß jetzt: Ich kann das." Die Japanerin, die ihr gegenüber sitzt, findet: "Deutschland ist so dunkel." Auch sie meint das positiv. Dunkel, weil die Geschäfte abends zumachen und nachts nicht mehr alles blinkt wie in ihrer Heimat. "Das ist unpraktisch, wenn man einkaufen will. Aber es entspannt mich auch sehr."

Je nachdem, wen man fragt, kann die Antwort auf die Deutschlandfrage ziemlich unterschiedlich ausfallen. Seit der Flüchtlingskrise und den Wahlerfolgen der AfD tobt im Land wieder einmal eine Leitkulturdebatte. Was muss ein gut integrierter Zuwanderer lernen - und was nicht? Was macht Deutschland und die Deutschen aus? Welche Werte teilt ein Wirtschaftsboss aus Grünwald überhaupt mit einem obdachlosen Landsmann, der am Berliner Alexanderplatz lebt? Oder eine Feministin aus Hamburg mit einer Hausfrau aus Freital?

Zuletzt hat das Institut für Demoskopie Allensbach die Deutschen gefragt, ob es so etwas wie einen Nationalcharakter gibt. 57 Prozent der Befragten fanden ja. Auf die Frage, was denn nun typisch deutsch sei, bekamen die Interviewer allerdings "auffallend plakative, klischeehafte" Antworten. Die Deutschen sind demnach vor allem: pünktlich, fleißig, ordnungsliebend.

In dem kleinen grauen Unterrichtsraum in der Nähe des Münchner Hauptbahnhofs fallen die Antworten ein wenig überraschender aus. Die Inderin und die Japanerin besuchen hier mit anderen Zuwanderern einen Integrationskurs. Sie sollen nicht nur die Sprache, sondern auch die Werte ihrer neuen Heimat kennenlernen. Noch sitzen vor allem Arbeitsmigranten aus Südeuropa und Asien und nur wenige Flüchtlinge in den Kursen, wie sie beispielsweise die Volkshochschule in München anbietet. Künftig wird sich das ändern.

Mit dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz wurden die Integrationskurse für Flüchtlinge geöffnet, über deren Antrag noch nicht entschieden wurde. Wer aus Syrien, Eritrea, Somalia, Iran oder Irak kommt und die Aussicht hat, zu bleiben, soll hier auf das Leben in Deutschland vorbereitet werden. Doch wer entscheidet darüber, was deutsch ist? Und was nicht?

"Der Kurs ist ein lernendes System"

Die Integrationskurse gibt es bereits seit 2005. Sie bestehen aus einem 600-stündigen Sprachkurs und einem Orientierungskurs. Wer den Zuwanderern was mit welchen Büchern vermittelt, entscheidet das Bundesamt für Migration (BAMF). Auch der Abschlusstest ist bundesweit einheitlich, bis auf einige Fragen, die sich speziell auf das Bundesland beziehen, in dem der Schüler lebt. Am ersten Lehrplan arbeitete eine Kommission aus Wissenschaftlern, Lehrern, Verbänden und Politikern ziemlich lange. Seitdem wird das Curriculum ständig überarbeitet.

"Der Kurs ist ein lernendes System, das ständig angepasst wird - an die Veränderungen in der Gesellschaft und an die Teilnehmerschaft des Kurses", erklärt Carola Cichos, die beim BAMF das Referat für Fragen der sprachlichen und politischen Bildung leitet - und damit für den Lehrplan verantwortlich ist. Gerade wurde der Orientierungskurs von 60 auf 100 Stunden erweitert. Es soll künftig vermehrt um Werte gehen und um die Teilnehmer selbst. Ziel sei es, eine vertiefte Beschäftigung mit den Normen und Werten der deutschen Gesellschaft zu ermöglichen, sagt Cichos.

Das Thema Gleichberechtigung hat mehr Raum bekommen, zudem wird jetzt auch über Migranten in Deutschland gesprochen und wie sie das Land mitgestaltet haben - in wirtschaftlicher und auch immer mehr in kultureller Hinsicht. Auch der Alltag der Schüler soll Thema sein: "Wenn Teilnehmer beispielsweise erleben, dass sie auf Grund ihres Aussehens in der U-Bahn angepöbelt werden, kann dies ein Thema für das Kursgespräch sein", erklärt Cichos. "Im Kurs wird dann darüber geredet, dass ein Einzelfall nicht für alle gelten kann: Wenn ein Flüchtling ein Verbrechen verübt, heißt das nicht, dass alle Flüchtlinge gefährlich sind. Gleichzeitig bedeutet ein pöbelnder Deutscher nicht, dass die ganze Aufnahmegesellschaft so auf Migranten reagiert." ​

Der Kurs ist in drei Blöcke aufgeteilt: Politik und Demokratie, Geschichte und, der wohl sensibelste Bereich, Mensch und Gesellschaft. Beim Lehrplan hat man sich in weiten Teilen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt: das Grundgesetz. Es geht um die Parteien im Bundestag und den Widerstand im Zweiten Weltkrieg, um Bürgerinitiativen und Bürgerpflichten, um die DDR und die europäische Integration, aber eben auch um die gleichberechtigte Rolle der Frau und darum, dass Männer Männer lieben dürfen und Frauen Frauen. Am Ende gilt es, den Multiple-Choice-Test "Leben in Deutschland" zu bestehen.

Am Münchner Hauptbahnhof steht der Test kurz bevor, die Schüler leiern nun die Antworten auf die Fragen der Lehrerin auswendig herunter. Fragen, die wahrscheinlich viele Deutsche nicht aus dem Stegreif beantworten könnten. Etwa, warum die deutsche Flagge Schwarz-Rot-Gold ist. Oder ob der Stimmzettel bei der Bundestagswahl noch gültig ist, wenn man nur die Erststimme abgibt.

Diskussion über die Aufgabenverteilung im Haushalt

Um Werte geht es bei dem Test nicht. Hier werden Kenntnisse abgefragt, keine Gesinnung, darauf legt man beim BAMF Wert. Ziel des Kurses sei es dennoch, eine positive Bewertung der neuen Heimat zu ermöglichen und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu befähigen, wie es etwas umständlich heißt. Aber kann man Gleichberechtigung wirklich lernen? Oder Toleranz?

"Die Flüchtlinge, die zu uns kommen, wissen oft nur wenig über Deutschland. In den Erstaufnahmeeinrichtungen sind sie kaum mit Deutschen in Kontakt gekommen", erzählt Renate Aumüller. Sie organisiert für die Volkshochschule München die Integrationskurse. "Integration lernt man nicht in 600 Stunden, das ist ein Prozess, der oft über Generationen geht", sagt Aumüller. Dennoch ist sie der Meinung, dass die Kurse etwas bewirken: "Die Teilnehmer werden für die Vielfalt der Lebensmodelle in Deutschland sensibilisiert. Sie lernen, wie man auch leben kann." Aumüller sagt aber auch: "Wir mischen uns nicht in das Privatleben unser Schüler ein, wir wollen niemanden erziehen."

Das Curriculum ist bewusst offen gehalten. Die Kursteilnehmer sollen unterschiedliche Formen des Zusammenlebens beschreiben und auch eigene Erwartungen und Erfahrungen formulieren, heißt es etwa. Oder etwas konkreter: Die "Reflexion und Diskussion über die Aufgabenverteilung im Haushalt" sei ausdrücklich erwünscht.

Im Kurs am Hauptbahnhof sind die meisten Schüler junge Mütter, die sich derzeit hauptsächlich um Kind und Haushalt kümmern, während der Mann arbeiten geht. Manche finden das toll - wie die Inderin, die von ihrem Mann als drittem Kind spricht. Aber unterscheidet sie das wirklich von deutschen Frauen? Glaubt man Studien, geht es auch hierzulande alles andere als gleichberechtigt zu.

Verwunderung rufen hier eher andere Themen hervor. Nach Unterschieden gefragt, erzählt ein Bosnier: Die Deutschen seien so verschlossen. Zumindest habe er das am Anfang gedacht. Seit er die Sprache ein wenig spricht, habe er ein anderes Bild. "Aber man muss immer den ersten Schritt machen." Die anderen Schüler nicken. Viele ältere Menschen seien so einsam, wundert sich eine junge Frau aus dem Irak. Sie erzählt von ihrer Nachbarin, die nur ihren Hund hat. Einmal die Woche habe sie die alte Dame nun zum Kaffee eingeladen, auch wenn sie deren Bairisch kaum verstehe. "In meiner Heimat macht man das so."

"Jeder kann hier etwas lernen"

Wie viel die Schüler aus dem Kurs mitnehmen, hänge damit zusammen, wie viel sie mitbringen, sagt Aumüller. Manche haben nie wirklich eine Schule besucht und müssen erst einmal lernen, pünktlich zum Unterricht zu kommen und eine Prüfung zu schreiben. Andere haben in ihrem Land studiert und schaffen den Test ohne Probleme. Aumüller ist dennoch sicher: "Jeder kann hier etwas lernen." Nicht nur über Deutschland, sondern auch über die Bräuche und Gesetze in den Ländern der anderen Teilnehmer. "Wir haben hier alle Nationalitäten, auch Menschen aus Ländern, die Krieg miteinander führen. Konflikte gibt es unter den Teilnehmern dennoch kaum. Wenn sie sich im Kurs wohlfühlen, vergessen sie das andere."

Am Hauptbahnhof steht an diesem Vormittag die Nationalhymne auf dem Lehrplan. Nacheinander stehen die Schüler auf und singen das Lied ihres Landes in ihrer eigenen Sprache. Erst schüchtern, dann immer lauter. "Wieso stehen die Deutschen bei ihrer Hymne nicht auf?", will die Schülerin aus Indien wissen. In ihrer Heimat gebiete das der Respekt. Am Ende sind alle ein wenig stolz, dass sie sich getraut haben.

"Es war schön, eure Sprachen zu hören", sagt der Bosnier. Überhaupt sei für ihn das Schönste an dem Kurs, Freunde in Deutschland gefunden zu haben. Ganz unterschiedliche Freunde aus aller Welt. Vielleicht lernt man auch so Toleranz.

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