Integration:Stadt in Sachsen-Anhalt will Flüchtlinge - doch die gehen lieber woanders hin

Hettstedt in Sachsen-Anhalt

Hettstedt in Sachsen-Anhalt würden einige Flüchtlinge ganz guttun - die Stadt schrumpft.

(Foto: Stadt Hettstedt)

Großstädte wie Hamburg wissen kaum wohin mit den vielen Menschen. Hettstedt würde sie gerne halten, tut sich aber schwer. Ein deutsches Dilemma.

Reportage von Hannah Beitzer, Hettstedt/Hamburg

Geblieben ist nur einer. Einer von Hunderten Flüchtlingen, die im vergangenen Jahr durch Hettstedt zogen. 300 Flüchtlinge waren in der Stadt zu Höchstzeiten untergebracht. Wenn es nach Bürgermeister Danny Kavalier geht, dann hätten mehr von ihnen hier bleiben sollen - eine Meinung, wie man sie sich in Hettstedt erst einmal leisten muss. Die AfD wurde hier bei den Landtagswahlen stärkste Partei.

Doch Kavalier hält sich mit der politischen Konkurrenz nicht lang auf. Er rechnet stattdessen vor: "Nach der Wiedervereinigung waren wir eine große Kreisstadt mit mehr als 20 000 Einwohnern. Jetzt sind es noch 14 600. Und die Tendenz geht in Richtung 11 000", erzählt er in seinem Büro am Marktplatz. Kavalier, ein kräftiger Typ mit tiefer Stimme, zählt auch noch auf, was das alles bedeutet: Hochhaussiedlungen müssen zurückgebaut werden, Abwasser, Trinkwasser, Abfallwirtschaft - all das wird, umgelegt auf immer weniger Hettstedter, teurer. Kindergärten und Schulen werden bald schließen müssen.

Flüchtlinge als Chance für die schrumpfende Stadt

Schon jetzt hätten große Unternehmen in der Umgebung Schwierigkeiten, Auszubildende zu finden. 53 Jahre ist der durchschnittliche Hettstedter alt. "Die Kinder, die uns fehlen, werden die Menschen hier selbst nicht mehr bekommen", sagt Kavalier. Dafür aber vielleicht die Flüchtlinge, die im vergangenen Jahr nach Deutschland kamen - so lautet die Hoffnung Kavaliers.

Die meisten Flüchtlinge verlassen Hettstedt aber wieder, so schnell es geht. "Wenn da Leute aus Millionenstädten kommen, finden sie es hier erst einmal nicht sehr verlockend", sagt er: die engen Straßen, der überschaubare Stadtkern und rund herum Wald und Felder. Gerade kaufen die Hettstedter auf dem Wochenmarkt vor Kavaliers Büro ein, umgeben von Drogerieketten, Billig-Läden à la MäcGeiz, aber auch einem Eisenwarenladen wie aus dem Bilderbuch, einer Feinkostpassage, der spätgotischen Sankt-Jakobi-Kirche.

Viele der Flüchtlinge zögen auch in Städte, wo schon Verwandte von ihnen leben, sagt Kavalier. Das kann er natürlich verstehen. "Was mir allerdings sehr zu denken gibt, ist, dass einige sagen: Das hier ist nicht das richtige Deutschland. Wir wollen ins richtige Deutschland." Das richtige Deutschland sind für sie die alten Bundesländer.

Was Hamburg attraktiv macht

Dort, genauer: in Hamburg, sitzt Flüchtlingskoordinator Anselm Sprandel ebenfalls in seinem Büro und rechnet auch etwas vor: 40 000 neue Plätze für Flüchtlinge müsse die Stadt bis Ende des Jahres vermutlich schaffen. Dann werden es mit den bereits bestehenden Plätzen insgesamt 79 000 sein. "Das ist für einen Stadtstaat wie Hamburg viel", sagt der Flüchtlingskoordinator.

Sprandel hat, wenn man so will, das gegenteilige Problem von Danny Kavalier. Nach Hamburg wollen nämlich viele Menschen, nicht nur Flüchtlinge. Die Gründe dafür zählt Sprandel auf: Es gibt Arbeitsplätze, ein großes Kulturangebot, eine multikulturelle Umgebung, viele staatliche Angebote. Schon vor der sogenannten Flüchtlingskrise waren in der Millionenstadt Wohnungen knapp, vor allem billige Mietwohnungen.

Vor diesem Hintergrund muss Sprandel sich darum kümmern, dass alle Flüchtlinge ein Dach über dem Kopf haben. "Das bedeutet leider, dass Flüchtlinge bei uns teilweise im unteren Standard untergebracht sind", sagt er. Also zum Beispiel in leeren Baumärkten. Sprandel wünscht sich, dass die umliegenden Flächenländer Hamburg Flüchtlinge abnehmen. Gesetzlich ist das inzwischen möglich. "Sobald es aber konkret wurde, tauchten plötzlich vor Ort Schwierigkeiten auf", sagt er. Hamburger Politiker sprechen sich wie viele Vertreter deutscher Großstädte dafür aus, Flüchtlingen auch nach erfolgreichem Asylantrag einen Wohnort zuzuweisen, um den Druck auf die Städte zu mindern.

Die Angst vor "Ghettos"

Hamburg plant daher mehrere große Wohnsiedlungen mit insgesamt 4700 Wohnungen für Flüchtlinge im ganzen Stadtgebiet. Beinahe unnötig zu erwähnen, dass das vielen Hamburgern nicht passt: Sie sprechen von "Massensiedlungen" und "Ghettos". Parallelgesellschaften würden hier entstehen. Eine Volksinitiative hat innerhalb weniger Wochen Zehntausende Unterschriften gegen die Pläne gesammelt. Auch Stadtsoziologen sehen die Pläne kritisch, erinnern an soziale Brennpunkte wie Berlin-Neukölln.

Sprandel kennt und versteht diese Ängste. Für ihn sei es jetzt zum einen aber wichtig, die Menschen aus den Baumärkten in ordentliche Wohnungen zu bekommen. Zum anderen gibt er zu bedenken: "Die eigene Community gibt Flüchtlingen gerade zu Beginn ein Stück Geborgenheit. Sie kann eine Brücke sein in die Gesellschaft, Hilfe bei Behördengängen und bei der Eingewöhnung bieten." Schwierig werde es allerdings, wenn die Flüchtlinge in dieser Geborgenheit verharrten, den Weg in die Gesellschaft nicht fänden. "Es ist wichtig für sie, Deutsch zu lernen, einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu finden."

Wie kann Integration gelingen?

Sprandel glaubt nicht, dass die geplanten Siedlungen automatisch zu Ghettos werden müssen. Die Stadt setze in der Integration schon bei den Kindern an. Die Kleinsten sollen in Kitas der umliegenden Stadtteile betreut werden, die Größeren dort zur Schule gehen, Jugendliche erst berufsvorbereitenden Unterricht erhalten und dann eine ganz normale Ausbildung machen. Auch die Eltern sollen für die Arbeit die Siedlungen verlassen.

Umgekehrt sollen die deutschen Nachbarn über Geschäfte und Kulturangebote in die Siedlungen gelockt werden. Wichtig sei auch die Arbeit ehrenamtlicher Helfer. "Im Moment haben wir da ein sehr großes Engagement", sagt Sprandel. "Ich hoffe, dass es auch die kommenden Monate anhält." Sobald weniger Flüchtlinge nach Deutschland kommen, sollen die Unterkünfte normale Sozialwohnungen werden. Damit werde ohnehin eine andere Mischung erreicht.

In Hettstedt haben sie es mit einer ganz anderen Situation zu tun. Die größte Sammelunterkunft hier hat 80 Plätze. Der Rest der Flüchtlinge lebt dezentral in Wohnungen in der ganzen Stadt. Parallelgesellschaften, eine Community, in der Flüchtlinge verharren können, gibt es nicht. Das bedeutet allerdings: Die Brücke in die Gesellschaft müssen die Hettstedter von Anfang an selbst sein. Zum Beispiel Leute wie Bernd Kühne und Michael Thiesler. Der Polizeibeamte und der Versicherungsmakler sind Vorsitzender und Geschäftsführer des FC Hettstedt. Der Verein spielt hier für die Hettstedter Flüchtlinge eine besondere Rolle - und umgekehrt.

Flüchtlinge retten den FC Hettstedt

Anfang vergangenen Jahres war der alte FSV Hettstedt nämlich pleite. Die guten Spieler wechselten zu anderen Mannschaften, wo sie noch ein Taschengeld bekommen. "Dann sind wir auf die Idee gekommen, zu schauen, was die Flüchtlinge so machen", sagt Kühne, der für die Linkspartei im Hettstedter Stadtrat sitzt. Große Diskussionen habe es da nicht gegeben. "Für uns ging es einfach um die Frage: Werden wir wieder eine spielfähige Mannschaft zusammenkriegen oder nicht?"

Neben einigen anderen Spielern fanden sie den 33-jährigen Syrer Murad Bengin. Er ist die erste kleine Erfolgsgeschichte der Hettstedter Anwerbungsinitiative. Denn er ist der eine, der blieb. Inzwischen trainiert er die Integrationsmannschaft des FC Hettstedt, will seine Frau und seine Kindern aus Syrien nachholen. Für ihn hat sich der Verein aber mächtig ins Zeug gelegt. "Wir haben mit ihm alle Behördengänge gemacht, ihm eine Wohnung besorgt und er hat sogar über einen Vereinskollegen einen Arbeitsplatz gefunden", sagt Thiesler. Der Syrer arbeitet inzwischen in einem Kinderheim, das auch Flüchtlingskinder betreut. Inzwischen spielen noch zwei weitere Syrer im Verein mit - und die Hettstedter hoffen, dass auch sie bleiben.

Hettstedt

Flüchtlinge beleben den FC Hettstedt - hier bei einem Integrationsturnier.

(Foto: FC Hettstedt)

Fußball allein werde da nicht reichen. "Damit ist jemand maximal zweimal die Woche beschäftigt", sagt Kühne, "worauf es wirklich ankommt, ist Arbeit." Dass das bei Bengin so schnell geklappt hat, sei ein Glücksfall. Normalerweise seien die rechtlichen Hürden für den Arbeitgeber zu hoch, sagt Bürgermeister Kavalier. Für viele Unternehmer bedeute es ein Risiko, einen Flüchtling einzustellen, dessen Bleibeperspektive unklar sei.

Warum der AfD in Hettstedt die Wähler zulaufen

Dabei gibt es freie Stellen in der Umgebung. Das Kupferunternehmen MKM zum Beispiel sucht schon weit über den Landkreis Mansfeld-Südharz hinaus nach Auszubildenden. Auch in der Pflege würden dringend Leute gebraucht. An dieser Stelle muss es doch noch einmal um die AfD und ihre Anhänger gehen in dem Gespräch. Denn die fragen natürlich: Warum sollen das Flüchtlinge machen - und nicht Deutsche? Die Arbeitslosenquote in der Gegend liegt immerhin bei fast 20 Prozent. Das Engagement von Danny Kavalier stößt einigen da bitter auf.

"Man darf sich von der relativ hohen Arbeitslosenquote nicht täuschen lassen", sagt dieser. In Hettstedt seien viele Menschen, die nach der Wende ihren Job als Bergarbeiter verloren hätten, schon seit Jahrzehnten arbeitslos. "Leider ist da auch eine ganze Generation herangewachsen, die von ihren Eltern nichts anderes als Sozialleistungsbezug kennt", sagt Kavalier. Bewerbungsgespräche müssten manchmal nach fünf Minuten abgebrochen werden.

Hohe Arbeitslosigkeit - aber zu wenige Azubis

Das hören viele Hettstedter nicht gern und auch Kavalier betont: "Das System hat ganz klar versagt, es rächt sich der Sparkurs in der Bildung." Doch die Flüchtlinge dafür verantwortlich zu machen, sei falsch. Dennoch versteht er den Unmut, der hier in der Gegend der AfD die Wähler zutreibt. Er habe als Bürgermeister in den vergangenen Jahren harte Sparmaßnahmen verkünden müssen. "Da wird auf Bundes- und Landesebene stolz die schwarze Null verkündet, doch in den Kommunen, wo es die Leute betrifft, kommt nichts an."

Einige Hettstedter, so erzählt es der Polizeibeamte Kühne, hätten nun auch Angst, wenn sie nachts eine Gruppe Ausländer auf der Straße treffen. "Ich sage da immer: Leute, was erzählt ihr denn für eine Quatsch?", sagt er und lacht, "da habe ich vor manchen deutschen Jugendlichen mehr Angst." Bisher habe es allenfalls mal einige Ladendiebstähle von Flüchtlingen gegeben. "Aber wie viele Deutsche stehlen denn?", sagt er. Ein Gerücht auf Facebook, wonach Flüchtlinge ein Mädchen im Schwimmbad belästigt hätten, stellte sich als falsch heraus.

Die Angst vor abendlichen Übergriffen habe jedoch einen durchaus verständlichen Hintergrund, sagt Bürgermeister Kavalier: "Auch bei der Polizei ist in den vergangenen Jahren sehr gespart worden." Das Polizeirevier in Hettstedt ist nach Büroschluss nicht mehr besetzt - wer sich dort am Abend meldet, wird ins nahegelegene Eisleben überstellt. "Das trägt natürlich nicht dazu bei, dass sich jemand sicher fühlt", sagt Kavalier.

Momentan versiegt der "Flüchtlingsstrom"

Kavalier will trotzdem nicht aufhören, für seine Idee zu werben - auch wenn viele Hettstedter ihn für verrückt erklären. Zehn bis 20 Familien pro Jahr in die Stadt zu holen, ist sein Ziel. Es könnte allerdings sein, dass ihm nicht die AfD und ihre Anhänger, sondern die große Politik dazu zwingt, seine Pläne aufzugeben. Seit die Balkan-Route dicht ist, kommen viel weniger Flüchtlinge in Deutschland an als 2015.

Das hat auch Auswirkungen auf die Arbeit von Anselm Sprandel. Schon werden erste Forderungen laut, die Pläne für die Siedlungen aufzugeben - denn wo es keine Flüchtlinge gibt, da braucht es auch keine Wohnungen. Noch hält die Stadt jedoch an ihren Plänen fest. "Es gibt eine Atempause, aber keine Entwarnung", sagt Sprandel, "das Jahr 2015 hat gezeigt, wie schnell sich die Situation wieder ändern kann." Sollten die Zahlen niedrig bleiben, will die Stadt die Belegungszahlen in den bisherigen Unterkünften reduzieren.

Auch Danny Kavalier läuft diese Diskussion in die falsche Richtung: "Mir wird im Moment viel zu viel über Grenzschließungen und Obergrenzen geredet und zu wenig über Integration." Die Flüchtlinge, die viele nur noch als Bedrohung, als "Strom", als "Welle", als "Krise" sehen - für ihn und seine schrumpfende Stadt sind sie immer noch eine Hoffnung.

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