Kolumne: Vor Gericht:Keine Frage der Herkunft

Kolumne: Vor Gericht: undefined

Wer viele Prozesse verfolgt, sieht, dass Angeklagte nicht selten ausländisch klingende Vornamen tragen. Aber sagt das etwas über mangelnde Integrationsbereitschaft aus?

Von Ronen Steinke

Die Frau beeindruckte den Reporter mit ihrer Eleganz. "Man könnte glauben, sie sei vom russischen Ballett", schwärmte er. Dabei war sie offenbar Mitglied einer kriminellen Bande. Mit einem Komplizen hatte sie in Berlin gerade eine Wohnung leergeräumt.

Dieser Frau widmete der Gerichtsberichterstatter Paul Schlesinger, Künstlername "Sling", vor knapp hundert Jahren eine seiner Reportagen. Die Frau schilderte ihre ganze tragische Migrationsgeschichte, doch "der Richter ist nicht erbaut von der Geschichte, denn es hapert bei ihr mit der deutschen Sprache". Slings Arbeitsplatz waren die Gänge und Hallen des Strafgerichts in Berlin-Moabit. Hier schrieb er Geschichten von Außenseitern, von Flüchtlingen, die immer wiederkamen. Und es lohnt heute, daran zu erinnern: Ihre Namen klangen nicht arabisch oder türkisch. Sondern meist russisch und jüdisch.

Es lag nicht an irgendwelchen Vorlieben des Gerichtsreporters, dass er im Gericht so viele Juden aus Osteuropa sah. Viele von ihnen waren vor den Pogromen im zerfallenden Zarenreich geflohen. Mädchen "aus dem finstersten Galizien", wie sie auch in Alfred Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz" auftauchen, "schimmernd wie eine Blume im Schaufenster": angeklagt wegen Diebstahls, vorgeführt aus Untersuchungshaft. Diebstähle aus Not, oder aus Mangel an Alternativen. Wer in der Gesellschaft am Rand steht, der stand in Strafgerichten schon immer im Mittelpunkt.

Heute wollen manche in Deutschland deshalb dringend über Integrationsverweigerer diskutieren. Schaut her, sagen sie: Wenn man durch ein Gericht wie in Berlin-Moabit geht, vor einem beliebigen Saal stehenbleibt und dann liest, wie die Angeklagten an diesem Tag heißen, die dort auf einem A4-Zettel stehen, dann lauten die Vornamen an einem Tag im Dezember zum Beispiel: Aliona und Artom, Sergej, Alexander, Kevin, Georgii, Vasilii und Svitlana, Mirnes, Sabrina, Patryk. Ist das nicht der Beweis, dass Ausländer krimineller sind? Dass selbst bei Tätern, die einen deutschen Pass haben mögen, eine ausländische Herkunft dahintersteckt? Eine Kultur der Gewalt? Der Gerichtsreporter Sling hätte schon vor hundert Jahren wahrscheinlich nur müde gelächelt. Was für eine unoriginelle, altbackene Beobachtung.

Die Literatur hat es tausendmal beschrieben, schon bevor Statistiker nachgerechnet haben: Arme stehlen häufiger als Reiche. Außenseiter häufiger als Insider. Leute, die schlechtere Chancen haben, mit legalen Mitteln am guten Leben teilzuhaben, versuchen es zumindest statistisch betrachtet häufiger anders. Manche rutschen ab in Drogen und Gewalt. Das Problem ist nicht in einer bestimmten Kultur beheimatet, es hängt aber durchaus mit der ethnischen Herkunft zusammen. Der Grund ist, dass Menschen ausländischer Herkunft im Durchschnitt schlechtere Chancen in der Gesellschaft bekommen. Das war schon vor hundert Jahren so.

Kolumne: Vor Gericht: An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten.

(Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
Zur SZ-Startseite

SZ PlusUnvergessen - Deutschlands große Kriminalfälle: Folge 6
:Das bin ja ich!

Ein junger Mann gerät beim Zappen in die Sendung "Aktenzeichen XY ... ungelöst" - und in einen realen Albtraum: Der Gesuchte kommt ihm sehr bekannt vor.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: