Inklusion:Julian soll wählen dürfen

Inklusion: Am 14. Mai durfte Julian Peters zum ersten Mal abstimmen, bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Im September zur Bundestagswahl darf er das nicht.

Am 14. Mai durfte Julian Peters zum ersten Mal abstimmen, bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Im September zur Bundestagswahl darf er das nicht.

(Foto: Stefan Finger)

In Deutschland sind viele Behinderte von politischen Abstimmungen ausgeschlossen - auch Julian, der das Downsyndrom hat. Seine Familie kämpft dafür, dass er doch bei der Bundestagswahl abstimmen darf.

Von Ulrike Nimz

Durchhalten, sagt die Hebamme, die Hände zwischen den Beinen der Mutter. Ein paar Minuten noch, dann ist Mitternacht, dann ist Muttertag. Gibt es einen besseren Tag, um geboren zu werden? Aber das Kind will nicht warten und die Mutter schon gar nicht. Als Julian kommt, sieht er aus wie jedes andere Baby. "Das ist gut", sagt die Hebamme. Das ist gut, denkt die Mutter und drückt die Hand des Vaters. Im Kreißsaal will niemand ein Kind, das besonders ist.

Am Tag darauf runzelt eine Schwester die Stirn. Das Kind wackelt mit dem Kopf, als würde es fortwährend staunen über diese Welt. Eine Linie zieht sich quer über seine Handflächen. Ausgeprägte Herzlinie, würden Handleser sagen. Vierfingerfurche, sagen die Ärzte, kein Beweis, aber ein Anzeichen für das Downsyndrom. Die Mutter muss in den Untersuchungsraum, ihre Beine gehorchen ihr kaum. Der Arzt, Gesicht zum Fenster, sagt ohne Hallo: "Ihr Kind ist behindert, das wissen Sie ja." Die Mutter weiß nichts, und die Mutter weiß alles. Sie leitet die Großküche in einem psychiatrischen Kinderkrankenhaus. Sechs Personen auf einem Zimmer, wie in der Kaserne. Sie weiß, was mit Menschen passieren kann, die anders sind. Der Vater nimmt seine Frau in den Arm. Sich selbst nimmt er ein Versprechen ab: Er wird alles tun, damit sein Sohn alles tun kann.

29 Jahre später sitzt Julian Peters an einem Holztisch und schneidet Paprika. Mit der Konzentration eines Uhrmachers löst er die Kerne vom Fruchtfleisch, schneidet längs, schneidet quer. Die Würfel ordnet er nach Farben, grün, gelb, rot. Julian Peters arbeitet im Bürgerhaus von Nettetal in Nordrhein-Westfalen. Im Erdgeschoss kann man Ausweise beantragen und Bücher ausleihen. Im Obergeschoss befindet sich eine kleine Restaurantschule. Hier lernen junge Menschen mit Downsyndrom, wie man ein Menü plant, einkauft, zubereitet, serviert. Heute gibt es Chili con Carne, Geheimzutat Zartbitterschokolade.

Der Vater sitzt mit am Tisch, sagt sanft "nein, danke", als sein Sohn zum dritten Mal die Kaffeekanne vor seiner Nase schwenkt. Die Hände hält er über dem Bauch gefaltet, wenn er lacht, klirrt leise das Besteck. Ludger Peters erzählt von der Nacht der Geburt und den Tagen danach, als man den Eltern sagte, was ihr Kind alles nicht können wird: Radfahren, Seilspringen, Subtrahieren. 1988 galt in Deutschland das Vormundschaftsrecht, darin Worte wie Mündel, Pflegling, geisteskrank. "Hätten wir damals gefragt, wie das mit dem Wahlzettel funktionieren soll, sie hätten uns ausgelacht", sagt Peters.

Julian wird per Gesetz von der Bundestagswahl ausgeschlossen

Der Vater hält vielleicht nicht mehr viel von Ärzten, aber seine Versprechen hält er sehr wohl. Julian Peters hat Kindergarten, Grundschule, Gesamtschule besucht, in Nettetal, gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung. Er hat keine Noten bekommen, aber Einladungen zu Geburtstagspartys. Hat Rechnen gelernt und Basketballspielen, und dass man Leute nicht ungefragt umarmt. In seinem Abschlusszeugnis steht: "Julian arbeitet sehr konzentriert, selbständig, ausdauernd, aber langsam. Er hat ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl und setzt sich auch dafür ein."

Dieses Gefühl wird alle vier Jahre auf die Probe gestellt. Denn es gibt etwas, das Julian Peters nicht kann, obwohl er volljährig ist - den Bundestag wählen. Grund ist das Bundeswahlgesetz, Paragraf 13. Er schließt zwei Gruppen von der Stimmabgabe aus: Menschen, die schuldunfähig zu Straftätern wurden und in der Psychiatrie untergebracht sind. Und Menschen, für die ein Richter eine Betreuung "in allen Angelegenheiten" bestellt hat. Personen, also, die körperlich oder geistig stark eingeschränkt sind und jemanden brauchen, der ihren Alltag regelt.

"Natürlich bin ich stolz auf meinen Sohn"

Die Peters haben die Betreuung für ihren Sohn selbst beantragt. Das heißt, sie verwalten sein Geld, machen Behördengänge und Arzttermine. Das heißt nicht, dass Julian Peters völlig unselbstständig ist. Angehörige von Menschen mit Behinderung lassen sich oft aus praktischen Gründen als Betreuer einsetzen. Die Eltern wollen die Kontrolle darüber behalten, was mit ihrem Kind geschieht und müssen in Kauf nehmen, dass es dafür ein Grundrecht verliert. 84 000 Menschen sind in Deutschland vom Wahlrechtsausschluss betroffen. Das ist zweimal Nettetal.

Der Ort liegt tief im Westen, Klinkerhäuschen und Gärten mit Trampolin. Wenn sie sich hier ärgern, dann darüber, dass in den Wohngebieten keine Nachtigall mehr singt oder die Gaststätten immer voll sind mit Holländern. Kleinigkeiten. Doch vieles funktioniere hier besser als anderswo, sagt der Vater. Weil es normal sei, sich zusammenzusetzen, auch nach Feierabend. An der Bar oder am Grill komme man ins Reden, da kläre sich vieles.

Inklusion: Familie Peters hatte Jahre darauf gewartet, dass Julian bei der Wahl zum Landtag abstimmen darf. Nun hoffen die Eltern, dass ihr Sohn, 29, auch bald an der Bundestagswahl teilnehmen darf.

Familie Peters hatte Jahre darauf gewartet, dass Julian bei der Wahl zum Landtag abstimmen darf. Nun hoffen die Eltern, dass ihr Sohn, 29, auch bald an der Bundestagswahl teilnehmen darf.

(Foto: Stefan Finger)

Ob Stollen oder Gesetze - sie treiben die Dinge gern voran im Pott. Im vergangenen Jahr hat Nordrhein-Westfalen den Wahlrechtsausschluss gekippt, gerade rechtzeitig zur Landtagswahl. Ein Schritt, auf den Familie Peters Jahre gewartet hat. Zeige er nicht auch, wie leicht Inklusion in dieser Frage möglich wäre? Dass auch der Bund seine Position überdenken sollte?

Auch Julian Peters bekam eine Wahlbenachrichtigung, er trug sie vor sich her wie einen ersehnten Gehaltsscheck. Vater und Sohn bereiteten sich vor auf diesen 14. Mai. Sie spazierten durch den Ort, studierten die Wahlplakate. Sie stellten sich vor, die Kandidaten des Wahlkreises Viersen II säßen auf der heimischen Couch, wie Talkgäste bei Anne Will: Optendrenk neben Jansen neben Heesen neben Brockes, kein Platz für den Mann von der AfD. Vor dem Wahllokal wartete das Lokalfernsehen, wie es das immer tut, wenn in Nettetal etwas zum ersten Mal geschieht. Sie filmten Julian Peters beim Reingehen, sie filmten ihn beim Rausgehen. Sie befragten den Vater, der sagte: "Natürlich bin ich stolz auf meinen Sohn."

Ist es Julians Wunsch zu wählen - oder der seiner Eltern?

Ludger Peters ist Journalist, hat lange für die Rheinische Post geschrieben, Lokalredaktion Viersen. Seit sein Sohn da ist, ist er auch Lobbyist: Er hat den Verein "Kindertraum" gegründet, mit Stadträten und Bürgermeistern Projekte ausgehandelt. Hat Eltern und Lehrer von Inklusionsklassen überzeugt, als noch keiner das Wort überhaupt kannte. Er hat seinem Sohn Parteiprogramme erklärt, obwohl der viel lieber auf dem iPad daddelt. War das tatsächlich Julian Peters Wunsch? Oder geht es hier auch darum, was die Eltern wollen, darum, ein paar Ärzte Lügen zu strafen - um einen fast 30 Jahre alten Schwur?

Das sei vielleicht altmodisch, sagt Ludger Peters, aber er glaube an Wählen als Bürgerpflicht. Er will, dass sein Sohn mitdenken, mitmachen, mitbestimmen kann. Darüber urteilen, ob ein Mensch einen politischen Willen besitzt, will er nicht. Er glaubt, dass das niemand tun sollte.

Inklusion: Das Zimmer des BVB-Fans Julian Peters.

Das Zimmer des BVB-Fans Julian Peters.

(Foto: Stefan Finger)

Das Haus der Familie steht hinter einer Hecke, mit Wintergarten und Basketballkorb. Julians Zimmer liegt unter dem Dach. Wer fragt, bekommt eine Führung, mit Blick ins DVD-Regal und in die Fotoalben. Ein Bild zeigt Julian Peters und ein Pony namens Blümchen. Er hat die Hand im Fell des Tieres vergraben und lacht. Es gibt einen Satz, den seine Mutter nicht vergessen kann, weil er stimmt, und weil er so schrecklich ist. Er fiel ganz beiläufig, bei der Krankengymnastik: "Sie haben ja Glück, Ihr Sohn ist einer von den Schönen."

Auf dem Fensterbrett stehen Parfümfläschchen, nach Größe geordnet wie Sammlerstücke. Der Schlafanzug liegt gefaltet auf dem Bett. Julian Peters liebt Ordnung und den BVB. An den Dachschrägen sind Trikots aus zwei Jahrzehnten gespannt wie Felle in einer Jagdhütte: Koller, Götze, Kagawa. Seit 17 Jahren hat die Familie eine Dauerkarte für die Südtribüne, war beim Spiel zum 100. Vereinsjubiläum, bei minus 18 Grad. War im Stadion, am Tag, als eine Bombe die Scheiben des Mannschaftsbusses bersten ließ. Wenn am 24. September Vereine statt Parteien zur Wahl stünden, Julian Peters pilgerte singend zum Borsigplatz, ein Kämpfer für Schwarz-Gelb. Aber der Bundestag?

Es gibt Widerstand gegen den Wahlrechtsausschluss

Julian Peters kennt die Namen und Logos der großen Parteien. Er weiß, dass sie verschiedene Farben haben, da unterscheiden sie sich nicht sonderlich von Paprika. Er schaut die "Tagesschau", "Tatort", "Akte X". Die Kabarettsendung "Die Anstalt" mochte er nur, als Urban Priol noch dabei war. Es ist nicht klar, ob er jeden Seitenhieb verstand oder nur lachte, weil dessen Haare so lustig aussahen. Aber gilt nicht dasselbe für ein klatschendes Publikum? Über Angela Merkel sagt Peters: "Die ist süß", nur Claudia Roth sei noch süßer. Man kann das als Ausweis politischer Unbedarftheit nehmen. Oder man kann sich vergegenwärtigen, wie oft sich die Auseinandersetzung mit beiden Frauen auf ihr Aussehen beschränkt. Es gibt da draußen Menschen, die Claudia Roth mit einem Pferdehintern vergleichen und die Kanzlerin für ein Reptilienwesen halten. Diese Menschen dürfen wählen.

Als Julian Peters noch ein Kind war, lief er davon, wenn er sich ungerecht behandelt fühlte. Kein Zaun, keine Hecke konnte ihn halten. Er stahl sich auf Socken aus dem Haus, wenn gestritten wurde, zwängte sich durch Schulfenster. Einmal versteckte er sich in der Wohnung des Platzwartes, zog die Schuhe aus und sah fern. Als der Vater kam, um ihn nach Hause zu bringen, machte er sich schwer, legte all sein Gewicht in die Beine. Man kommt diesem Trotz nur bei, indem man beide Arme von hinten um seinen Brustkorb schlingt. Ersthelfer ziehen so Bewusstlose aus Autowracks. Was denkt Julian Peters darüber, dass er im September wohl wieder nicht wählen kann? Er schaut über den Rand seiner Ray Ban und sagt: "Uncool."

Es gibt viele Menschen, die diese Dinge ähnlich sehen, und ein paar, die diese Dinge ändern wollen. Sie treffen sich an einem Aprilabend in Berlin, Rechtsexperten, Behindertenvertreter, Politiker. Zwei Stunden lang diskutieren sie über das Wahlrecht und dessen Geschichte, die so oft eine von Ausgrenzung war: zu wenig Besitz oder das falsche Geschlecht, nun also geistige Behinderung. Ist 100 Jahre nach der Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts ein Zweiklassenwahlrecht geblieben?

So jedenfalls sieht es Verena Bentele. Für die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung ist der Paragraf 13 ein Verstoß gegen die UN-Menschenrechtskonvention. Zehn Jahre ist es her, dass die Vereinten Nationen sich verpflichteten, "sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können". Doch selbstverständlich sei Selbstbestimmung bis heute nicht, sagt Bentele. Sie weiß, wovon sie spricht. Von Geburt an blind, ist Bentele die erste Behindertenbeauftragte, die selbst eine Beeinträchtigung hat. Und sie weiß, wie man sich Ziele setzt. Als Biathletin und Skilangläuferin dominierte sie die Paralympics.

Es ist ja nicht so, dass sich gar nichts getan hat: Die meisten Parteien haben Programme in leichter Sprache, immer mehr Wahllokale sind barrierefrei. Und doch sind sie in vielen EU-Staaten weiter als hierzulande, lassen ausnahmslos alle Bürger zur Wahl zu oder im Einzelfall einen Richter entscheiden. In Deutschland beschäftigen acht Behinderte das Bundesverfassungsgericht, weil sie Beschwerde eingelegt haben gegen den Wahlrechtsausschluss. Eine Entscheidung soll noch in diesem Jahr fallen.

Im Wahlkampf bleibt besser alles, wie es ist

Auch die Politiker sind sich nicht einig. Während SPD und Grüne die letzte Barriere wegräumen wollen, übt die Union sich in Widerstand. Missbrauch lautet das Hauptargument - was wäre, wenn Betreuer für ihre Schützlinge wählen? Man kennt die Berichte von Pflegeheimen, in denen bei Wahlen erstaunliche Einmütigkeit herrscht: Nur CDU-Stimmen aus denen der Caritas, nur SPD-Stimmen in Heimen der Arbeiterwohlfahrt. Das Problem an diesen Einwänden ist, dass kaum ein Bedenkenträger sie offen diskutieren mag. Wer würde sich auch hinstellen und sagen, er wolle nicht, dass Behinderte wählen? Im Wahlkampf bleibt besser alles, wie es ist. Was, wenn es auch Politikern mal an politischem Willen fehlt?

Familie Peters hofft weiter darauf, dass all die kleinen Schritte am Ende zum Ziel führen. Im Jahr 2006, demselben, in dem die UN die Geleichberechtigung behinderter Menschen als Ziel formulierten, bekam Julian Peters sein Abschlusszeugnis - als erster Inklusionsschüler in Nettetal. Die Klasse hatte einen kurzen Film gedreht. Julian Peters sprach darin genau einen Satz: "Nach dem Spiel ist vor dem Spiel." Am 24. September wird der Vater zum Wahllokal gehen, in der ehemaligen Schule seines Sohnes. Er wird ihn mitnehmen, so wie er ihn immer mitgenommen hat. Und Julian Peters wird dann wieder draußen warten, obwohl Warten nicht seine Stärke ist.

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