In deutschen Wohnungen:Stippvisite bei Messies und Pedanten

Bei seiner Tour taucht der Heizungsableser kurz in das Leben der anderen ein. Er bekommt mehr Einblicke in Wohnungen und menschliche Gemütszustände, als ihm bisweilen lieb ist.

Eike Schrimm

Im Schnitt ist der Heizungsableser Rainer Bayreuther (Name geändert) fünf Minuten in jeder Wohnung. In dieser kurzen Zeit zieht er von Zimmer zu Zimmer, von Heizkörper zu Heizkörper. Aber bei seiner Tour durch deutsche Wohnungen taucht er auch kurz in das Leben der anderen ein: Er sieht auf dem Weg zur Heizung das Doppelbett, in dem nur eine Hälfte bezogen ist. Er sieht vor der Garderobe die Pantoffeln, in denen Schuhspanner pedantisch das Leder glatt ziehen. Er sieht ein Schlafzimmer, in dem der gesamte Boden meterhoch bedeckt ist mit Kleidung, darin eine Mulde, in der kurz vorher jemand geschlafen hat.

In deutschen Wohnungen: "Ach herrje, Sie sind schon da!"  Als Heizungsableser ist man weder vor Unfreundlichkeit gefeit noch vor Vorwürfen und Viren. Da hilft nur: Augen zu und durch

"Ach herrje, Sie sind schon da!" Als Heizungsableser ist man weder vor Unfreundlichkeit gefeit noch vor Vorwürfen und Viren. Da hilft nur: Augen zu und durch

(Foto: Foto: Robert Haas)

Allein diese Stippvisite in einem durchschnittlichen Münchner Mietshaus, in einer durchschnittlichen Gegend reicht, um Einblick in die Vielfalt des Lebens zu bekommen.

Unter einem Dach wohnen da einsame Menschen, für die der Besuch des Heizungsablesers der Höhepunkt des Tages, ja vielleicht sogar der gesamten Woche ist. Und es gibt natürlich auch die klassischen Familien, in denen die Mütter mit Babys auf dem Arm das Mittagessen kochen und den Haushalt in Schuss halten. Oder die Wohnungen, in dem einer der zwei Doppelverdiener nach dem Ablesetermin zu seinem Arbeitsplatz eilt.

Bayreuther nennt die Bewohner "Nutzer". Die schlimmsten seien Rechtsanwälte - und Journalisten. "Um sich die 21 Euro für den extra vereinbarten Termin zu sparen, schreiben Anwälte 15-seitige Erklärungen, warum diese Gebühr gegen das BGB verstößt. Journalisten drohen, eine Geschichte über uns raffgierige Heizungsableser zu veröffentlichen", sagt Bayreuther. Immer links herum

Der gelernte Werkzeugmechaniker ist seit 1994 Heizungsableser. In der Hochsaison vom 25. November bis 25. Januar liest er 15.000 Heizkostenverteiler ab. In den Sommermonaten kommen noch einmal 10.000 Stück dazu. Diese 25.000 Stück reichen aber nicht aus, um sorgenfrei zu leben. Deshalb gehören Bayreuther noch 40 Prozent eines Getränke- und Weinhandels.

Nach einem Arbeitstag als Heizungsableser hat er an 44 Türen geklingelt, mehr als 260 Röhrchen in den Verdunstern ausgetauscht, 100 Wasseruhren überprüft und die Werte in seinen Handcomputer eingetippt.

Schon bevor Bayreuther die Wohnung betritt, teilt ihm dieser Computer mit, was auf ihn zukommt: fünf Heizkostenverteiler nach dem Verdunstungsprinzip, drei Warmwasseruhren installiert in Küche, Bad und WC. Aber sobald die Tür aufgeht, werden die sachlichen Daten vom Leben überschrieben.

Im ersten Stock öffnet zum Beispiel eine Frau "Ach herrje, Sie sind schon da! Sie müssen ohne mich zurechtkommen, ich muss zu meinem Mann." Dann verschwindet sie.

Bayreuther beginnt mit dem linken Zimmer. Die Faustregel der Heizungsableser lautet: Immer links herum. Sie starten also in jedem Haus im Erdgeschoss links, enden in der obersten Etage rechts und auch in der Wohnung drehen sie ihre Runde im Uhrzeigersinn.

In dieser Wohnung ist das die Küche. Dann kommt das Bad. Die Frau schiebt ihren gelähmten Mann hinein, zieht seine Hose runter, hievt ihn auf die Toilette. Auch wenn sich Fremde in der Wohnung aufhalten, kann sie auf seine Intimsphäre keine Rücksicht nehmen. Bei dem Kraftaufwand, ihn daheim zu pflegen, ist das Feingefühl längst aufgezehrt. Als sie die Wohnungstür schließt, sagt Bayreuther: "Ich ziehe meinen Hut vor diesen Menschen."

Stippvisite bei Messies und Pedanten

Im Stock darüber wohnt ein junges Paar, beide wohl noch keine dreißig Jahre alt. Der Gestank, der entgegenschlägt, ist bestialisch. Hier wird nie gelüftet. Im feuchten, heißen Bad ist die Decke schwarz-schimmelig überzogen, auch über der Wohnungstür überzieht der gesundheitsschädliche Pelz die Wand.

Wird Bayreuther der Hausverwaltung melden, dass die Wohnung verwahrlost ist? "Nein. Ich werde nur aktiv, wenn ich das Gefühl habe, da wird ein Mensch misshandelt." Zum Glück sei das noch nicht vorgekommen.

Als nächstes ist die Wohnung einer Frau an der Reihe. Zwei Zimmer, Küche, Bad, sagt der Computer voraus. "Guten Tag, der Heizungsableser ist da", stellt Bayreuther sich vor. "Oh, heute war das? Ich habe Sie ganz vergessen", sagt die Frau. In der Küche kreischt ein Vogel, eine exotische Art, groß wie eine Krähe. "Ach, reg dich nicht auf", schimpft sein Frauchen. Sie nimmt einen alten Lappen aus einem Eimer mit schmutziger Brühe, wischt den Vogelkot auf. "Wollen Sie einen Kaffee", fragt sie. "Nein, danke. Ich muss gleich weiter", lehnt Bayreuther ab.

Er trinke nie etwas, erklärt er später im Auto. Er habe sich auch abgewöhnt, sich mit den Fingern ins Gesicht zu fassen. "Ich habe einfach zu viel Dreck an den Händen", sagt er. Die Zahl der Messies, also der Menschen, die alles aufheben - Zeitungen, Müll, Verpackungen - nehme von Jahr zu Jahr zu.

Bei einer anderen Wohnung verrät das Namensschild die türkische Abstammung der Bewohner. Eine Frau macht auf, ihre Tochter schmiegt sich an ihr Bein. Der Duft frischer Wäsche strömt entgegen. In der Küche schmort eine Mahlzeit auf dem Herd, auf dem Tisch steht eine Obstschale so groß wie ein Autoreifen - gefüllt mit Orangen, Mandarinen, Kiwis, Äpfeln. Die gesamte Wohnung ist sehr aufgeräumt, nirgends steht Nippes. Nur über dem Bett des kleinen Mädchens hängt ein Pferdeposter.

Nach der dritten türkischen, 1a-geputzten Wohnung sagt Bayreuther: "Wer rechter Gesinnung ist, sollte mal Heizungen ablesen. Da lösen sich diese dämlichen Vorurteile über Türken ganz schnell in Luft auf."

Man lernt auch die seltsamsten Menschen kennen. "Eine Wohnung war mal komplett mit Folie ausgelegt. Wände, Möbel, Böden - alles", erzählt Bayreuther. "Selbst der Mann war in so einen Einmal-Regenmantel gehüllt und seine Hände steckten in diesen Aids-Handschuhen. Seine Begründung war: Die Welt steckt voller Viren."

Manchmal werde er auch gebeten, die Schuhe auszuziehen: "Aber das mache ich nicht mehr, nachdem ich in einen Reißnagel getreten bin. Nun lasse ich mir zwei Plastiktüten geben."

Wenn Bayreuther auch in der stinkigsten und dreckigsten Wohnung die Heizung abliest, lässt er sich seinen Ekel nicht anmerken. Er konzentriert sich ganz auf seine Arbeit. Sein Blick schweift niemals über Möbel oder bleibt an Gegenständen hängen.

Deshalb trauen ihm die "Nutzer"; sie plaudern offenherzig: "Schauen Sie, ich bin im Vorruhestand und damit ich beschäftigt bin, will ich dieses Schiff über den Winter zusammenbauen."

Andere bitten ihn um Rat: "Ich zahle für die 30 Quadratmeter Wohnfläche schon 80 Euro an Nebenkosten. Muss ich trotzdem etwas nachzahlen?"

Allerdings ist er auch vor Beschimpfungen nicht gefeit: "Der Tankwart wird wegen der hohen Benzinpreise angepöbelt, der Heizungsableser wegen der hohen Nebenkosten."

Das nehme er nicht persönlich, der Vorwurf widerspreche so oder so jeder Logik. Außerdem sei ein einzelner Streithansel fast eine willkommene Abwechslung.

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