Hungrige Schlafwandler:Fressattacken im Dämmerzustand

Manche Schlafwandler essen regelmäßig nachts den Küchlschrank leer - das kann gefährlich werden.

Eva Maria Marquardt

Für die Sekretärin aus München ist es eine Routineuntersuchung, als sie an jenem Morgen in die Klinik zur Blutabnahme kommt. Sie soll mit nüchternem Magen erscheinen. Aber das ist kein Problem, die 45-Jährige frühstückt sowieso nie. Als sie wieder nach Hause kommt und das schmutzige Geschirr in der Küche sieht, ruft sie in der Klinik an: "Die Bluttests können Sie wegschmeißen."

Hungrige Schlafwandler: Nicht nur einen Schokoriegel - manche Schlafwandler essen nachts den ganzen Kühlschrank leer.

Nicht nur einen Schokoriegel - manche Schlafwandler essen nachts den ganzen Kühlschrank leer.

(Foto: Foto: Stephan Rumpf)

Es war wieder passiert. Seit etwa zehn Jahren verliert die Frau nachts die Kontrolle über sich. Nach wenigen Stunden Schlaf, steht sie auf und geht in die Küche. "Dann esse ich, was gerade im Kühlschrank ist. Danach gehe ich wieder ins Bett", sagt die 45-Jährige. Am Morgen stellt sie sich stets die gleiche Frage: Was war es diesmal?

Manchmal erinnert sie sich an ihre nächtlichen Essattacken, manchmal nicht. Meistens isst sie Kalorienbomben wie Schokolade oder Brote mit Fleischsalat.

Würstchen mit Marmelade

Die Frau ist mit ihrem Verhalten nicht allein. Als "rhythmisches Ausräubern des Kühlschranks" beschrieben 1986 die Psychiater Ian Oswald und Kristine Adam im British Medical Journal den Fall eines 37-Jährigen, der nachts alle eineinhalb Stunden aufwachte und Fressattacken erlitt. Auch im Urlaub deponierte er neben seinem Bett einen Essensvorrat. Das Syndrom wurde 1991 als schlafbezogene Essstörung (Sleep related eating disorder, SRED) definiert.

Wie beim Schlafwandeln stehen Betroffene in einer Art Dämmerzustand nachts auf - um zu essen. "Oft essen sie abstruse Sachen wie Würstchen mit Marmelade oder Reinigungsmittel", sagt die Schlafmedizinerin Gwendolyn Böhm vom Klinikum rechts der Isar in München.

Am nächsten Morgen können sie sich meist nicht an ihre nächtlichen Mahlzeiten erinnern. Gefährlich wird es, wenn die nächtlichen Esser Pizza noch tiefgekühlt zu sich nehmen oder den Herd anschalten. Auch die Sekretärin fing einmal morgens um zwei Uhr an, im Dämmerzustand Kartoffeln zu kochen. Glücklicherweise stellte sie sich aus Gewohnheit eine Eieruhr. Ihr Sohn schreckte vom Klingen auf und weckte seine erstaunte Mutter auf.

Auch bei der Psychiaterin Martina de Zwaan von der Uniklinik Erlangen und bei Thomas-Christian Wetter vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie stellen sich immer wieder Menschen vor, die Essanfälle in der Nacht haben. Im Unterschied zur schlafbezogenen Essstörung wachen sie in der Nacht vollständig auf, können aber erst wieder einschlafen, wenn sie gegessen haben. "Die Patienten haben dann solche Gelüste, dass sie sagen ,Wenn ich das jetzt nicht esse, dann kann ich nicht einschlafen`", sagt Wetter. Diese Störung wird seit 1955 Night Eating Syndrome (NES) genannt.

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Fressattacken im Dämmerzustand

Die verschobene innere Uhr

Auch wenn seitdem auf diesem Gebiet geforscht wird, ist über Ursachen der nächtlichen Essstörungen wenig bekannt. Aktuelle Studien weisen darauf hin, dass ein Teil der inneren Uhr des Menschen verschoben sein könnte, so dass die Patienten erst in der Nacht hungrig werden. "Klar ist das aber nicht", sagt Martina de Zwaan, die über NES forscht. Es gebe für das nächtliche Essen nicht einmal allgemeine diagnostische Kriterien. "Man weiß eigentlich gar nicht, was das ist."

Wie häufig nächtliche Essstörungen in Deutschland auftreten, ist unbekannt. Studien aus den USA zufolge leiden etwa 1,5 Prozent der Bevölkerung an einer schlafbezogenen Essstörung, an NES um die vier Prozent. Das wären in Deutschland ungefähr 1,2 Millionen Menschen mit schlafbezogener Essstörung beziehungsweise 3,3 Millionen mit NES.

Ärzte kennen nur wenige Patienten, die allein an den nächtlichem Essattacken leiden. "Die meisten kommen wegen anderer Schlafstörungen wie Schlafwandeln oder Durchschlafstörungen", sagt Böhm. Viele wüssten nicht, dass ihr nächtliches Essen Teil einer Schlaf- oder Essstörung sein kann. Zudem sei es schwierig, darüber zu reden. "Anderen Leuten zu erzählen, dass man nachts aufsteht und isst und sich nicht mal daran erinnern kann, kommt schon seltsam rüber", sagt die Münchner Sekretärin.

Sie ging schließlich nicht wegen ihres nächtlichen Essens zum Arzt, sondern weil sie am Tag ständig einschlief. Im Schlaflabor wurde neben einer Hypersomnie, einer Tagesmüdigkeit mit plötzlichen Einschlafattacken, auch das nächtliche Essen entdeckt.

Ihre nächtliche Zügellosigkeit wollen die Betroffenen am nächsten Tag am liebsten vergessen - "die Gier ungeschehen machen", sagt Psychologe Andreas Schnebel, Leiter der Ernährungsberatungsstelle ANAD. Sie versuchen die nächtlichen Kalorien auszugleichen, indem sie tagsüber auf vieles verzichten. Nur sind die Betroffenen dann nachts erst recht hungrig.

Schlafmediziner gehen mit Fragebögen, ausführlichen Gesprächen und einer Untersuchung im Schlaflabor den Problemen auf den Grund. "Auch wenn die meisten Patienten in der ungewohnten Umgebung des Schlaflabors nicht plötzlich aufstehen und essen, gibt das individuelle Schlafprofil jedes Patienten Ärzten Hinweise", sagt Gwendolyn Böhm.

So weist abruptes Aufwachen aus dem Tiefschlaf auf Schlafwandeln hin. Andere Schlafstörungen wie Atemprobleme im Schlaf oder unruhige Beine sind oft mit nächtlichem Essen kombiniert und zeigen sich im Schlaflabor.

"Wie bei Magersucht und Bulimie ist Stress auch ein wichtiger Faktor", sagt Schnebel. Er versucht mit Tagebüchern und in Gesprächen den Stressfaktoren seiner Patienten auf die Spur zu kommen. Er entwickelt mit ihnen Verhaltensstrategien, um Stress abzubauen.

In jedem Fall sei es wichtig, regelmäßig und ausreichend zu schlafen und Alkohol zu vermeiden, rät Schlafmedizinerin Böhm. Wie beim Schlafwandeln sollte man zusätzlich Sicherheitsmaßnahmen treffen, um Verletzungen zu verhindern.

Also Nahrungsmittel wegschließen oder die Küchentür versperren. Wenn das nicht hilft, geben Ärzte auch Medikamente wie Benzodiazepine. Sie sind umstritten, da sie die Schlafstruktur verändern: Tiefschlafphasen, in denen Schlafwandeln und schlafbezogenes Essen auftreten, werden weniger, sodass die Patienten nachts seltener aufstehen.

Die 45-jährige Sekretärin nimmt Appetitzügler, um ihre Essattacken unter Kontrolle zu bringen. Doch den Kampf gegen den Jojo-Effekt hat sie schon fast aufgegeben. 20 Kilo runter, 25 rauf - sie weiß nicht, wie oft sie das erlebt hat. "Ich versuche, nur Gesundes im Kühlschrank zu haben oder Sachen, die ich nicht mag." Allerdings liegen in einem Fach auf dem Weg zum Badezimmer noch Schokoriegel. Die findet sie nachts immer.

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