Draußen stellen die Skilifte gerade den Betrieb ein, drinnen knistert das Brennholz im offenen Kamin. Der Wind treibt dichte Schneewolken am Fenster vorbei, durch das Hotelfoyer schweben Töne, die sich zu Klangwolken verdichten. "Scandinavia" heißt das Stück, eine Instrumental-Nummer von Van Morrison, mit ihren hin und her wabernden Harmonien der passende Soundtrack zum windigen Winterwetter. Während die Gäste an der Hotelbar mit Aperol Spritz anstoßen, verschmilzt der Barpianist den Schneesturm auf musikalische Weise mit dem Nachmittagstee, ohne dass es die Zuhörer dabei fröstelt. Das muss man erst mal schaffen.
Eddie Friel trägt einen schwarzen Anzug, weißes Hemd und Krawatte, das ist seine Arbeitsuniform, wenn er am Flügel sitzt. Er spielt ohne Noten, die Töne schneien nur so aus ihm heraus. Die grauen Haare und der förmliche Kleidungsstil lassen ihn älter erscheinen als 55. Seine Augen sind oft geschlossen, zwischendurch schaut er zum Barkeeper rüber, seinem treuesten Fan. Meistens nickt der Barkeeper bestätigend zurück, und Friel improvisiert weiter. Keith-Jarrett-artige Arpeggien, frei schwebende Klangwolken, danach ein Prélude von Chopin, etwas Bach, dann wieder ein Song von Billy Joel oder Randy Newman. Friels Repertoire reicht von Klassik bis Hitparade, von Mozart bis Coldplay.
Er ist für dezente Hintergrundmusik gebucht
Jeder Drogeriemarkt, jeder Fahrstuhl und jede Imbissbude wird heutzutage mithilfe individuell angepasster Playlisten digital beschallt - wozu braucht es da noch handgemachte Hintergrundmusik? Ist ein Barpianist in unserer Gesellschaft nicht ein Anachronismus? Ja, und das ist ja gerade das Schöne daran. In einem Luxushotel, das statt Plastikkarten bleischwere Zimmerschlüssel an der Rezeption an die Gäste verteilt, wäre eine Berieselung aus der Konserve ein Stilbruch. "Ich bin keine Jukebox", sagt Eddie Friel, "ich mache keine Fahrstuhlmusik."
Swing-Legende:Jazz-Gitarrist Coco Schumann ist tot
Er überlebte das KZ Auschwitz und war in der Nachkriegszeit einer der ersten deutschen Musiker, die eine E-Gitarre spielten. Nun ist Coco Schumann im Alter von 93 Jahren gestorben.
Er weiß, dass er für dezente Hintergrundmusik gebucht ist, sieht sich aber auch als ernst zu nehmenden Künstler - ein ständiger innerer Konflikt. Friel ist mit Van Morrison auf Tournee gegangen, hat auf dessen Album "Hymns to the silence" Piano und Orgel gespielt und eigene Songs komponiert. 1995 trat er für Irland beim Eurovision Song Contest an, mit der Schnulze "Dreamin'". Nach drei irischen Siegen in Folge landete Friel auf dem 14. Platz. "Künstlerisch war das sicher nicht mein Höhepunkt", gibt er zu, aber ein größeres Publikum hatte er nie: schätzungsweise 200 Millionen Fernsehzuschauer.
Friel kann auf Zuruf fast jedes Lied spielen und singen
Nun spielt er vor zwölf müden Wintersportlern in der Bar des Hotels Zürserhof am Arlberg. Sechsmal die Woche sitzt er dort von 16 bis 17 Uhr am Flügel und später noch mal, nach dem Abendessen bis Mitternacht. Nachmittags gibt er ausschließlich Instrumentalmusik zum Besten, abends singt er auch - Evergreens von Frank Sinatra, Jazz-Standards, Hits von Elton John, eigene Kompositionen. Die Stammgäste kennen und schätzen ihn, seit 17 Wintern. "Eddie ist eine Institution", sagt Willy Skardarasy, Seniorchef des Hotels. Über eine Künstleragentur waren die Skardarasys auf Friel gekommen, er hatte damals eine Freundin in Österreich und suchte dort Arbeit.
Friel hat eine klassische Ausbildung durchlaufen, spielt Klavier, Trompete und Orgel, er komponiert selbst und kann auf Zuruf fast jedes Lied spielen und singen. Seine Stimme klingt leicht rauchig. Sein Talent fiel früh auf, schon als Vierjähriger spielte er seiner großen Schwester am Klavier alles nach. Er wuchs in Donegal in Nordwestirland auf, zusammen mit vier Schwestern. Schon während des Musikstudiums in Belfast verdiente er Geld als Pianist in Bars und Hotels. Er arbeitete als Musiklehrer, war musikalischer Direktor des Belfast Arts Theatre und arrangierte Stücke für ein modernes Ballettensemble in Schottland.
In der irischen Musikszene kannte ihn Anfang der 1990er-Jahre jeder, und als er gefragt wurde, ob er beim Eurovision Song Contest antreten wolle, hatte er eigentlich überhaupt keine Lust dazu. Obwohl Eddie Friel die Show und auch das Lied nicht mochte, war "Dreamin'" sein kommerzieller Durchbruch - nach dem Gesangswettbewerb trat er in den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Deutschland auf. Van Morrison buchte ihn für mehrere Tourneen in Skandinavien, nahm ihn mit zum Montreux Jazz Festival. "Eine tolle Erfahrung, aber mir ist das hier lieber", sagt Friel, während er unter einem ausgestopften Steinbock in der Hotellobby auf dem Sofa sitzt.
Das hier - damit meint er seine Arbeitsbedingungen. Seinen Flügel, einen Bösendorfer, Baujahr 1936, wunderbar gepflegt und restauriert. Seine festen Arbeitszeiten und die feste Bezahlung. Kost, Logis und Mitbenutzung des Wellnessbereichs inklusive. Und sein Publikum, die Gäste des Hotels - sie kommen aus 65 unterschiedlichen Nationen. Manche von ihnen buchen ihn sogar für private Veranstaltungen - eine Hochzeit in Hawaii, eine Firmenfeier in Japan, ein Familienfest in Florida.
Ein guter Barpianist kann die Stimmung entscheidend steuern
Jedes Jahr im Frühling, wenn die Skisaison in den Alpen vorbei ist, reist Friel nach Japan. "Wenn ich in Japan spiele, ist es wie bei einem klassischen Konzert, die Leute sind zu höflich, um zu reden." In der Lobby des Skihotels ist das anders. Die Leute unterhalten sich, sie lachen, stoßen an, geben sich gegenseitig Feuer, an der Bar ist Rauchen erlaubt. Fühlt man sich da als Vollblutmusiker nicht missachtet? "Nicht unbedingt", sagt Eddie Friel, "denn ich habe hier auch einen viel direkteren Kontakt zu den Menschen als bei einem Open-Air-Konzert mit zehntausend Zuhörern."
Ein guter Barpianist kann sich jeder beliebigen Stimmung anpassen. Er kann die Atmosphäre in einem Hotel entscheidend steuern, je nachdem, ob er einen Hit zum Mitklatschen, einen Walzer zum Mittanzen oder eine Ballade zum Mitweinen spielt. "Wenn viele Paare da sind, spiele ich mehr Lovesongs, wenn mehr Trubel herrscht, wird es rockiger", sagt Eddie Friel.
An diesem Abend besteht das Publikum aus osteuropäischen Familien, ein paar Amerikanern, dazu 20 Urologen und Urologengattinnen, die im Hotel einen Kongress abhalten und tagsüber Ski fahren. Wie setzt man das musikalisch um? Schwierig. Also besinnt sich Friel auf die Bibel der Barpianisten - die Songbooks von Billy Joel und Elton John, das geht immer. "Just the way you are" - das passt auch auf einen angeheiterten Urologen.