Anna Thalbach stemmt die Hände in die Hüfte. So ein Mist! "Das Blut ist noch nicht da." Dabei hatte sie sich das so schön vorgestellt: ein bisschen Kunstblut im Gesicht, für das Foto in der Zeitung, deshalb hat sie extra hierher ins Theater geladen. Und jetzt fehlt, zwei Stunden vor der Vorstellung, einfach die Flasche mit dem dunkelroten Sirup!
Ein bisschen enttäuscht nimmt Thalbach Platz auf einer weißen Guillotine, die auf der Bühne steht. Neben ihr liegt ein abgehackter Frauenkopf, aus dem ein Stück glibberige Speiseröhre hängt. Man muss sagen: Das Setting in der Komödie am Kurfürstendamm in Berlin-Charlottenburg ist auch ohne Blut ideal für dieses Gespräch. Schließlich soll es um Splatterfilme gehen.
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"Marie-Antoinette" hatte zwei Tage vorher Premiere, eine schwarze Komödie, Thalbach spielt die Hauptrolle. Es spritzt Blut, es rollen Köpfe, für Anna Thalbach haben diese Details eine durchaus emotionale Bedeutung: Zum ersten Mal in 40 Jahren als Schauspielerin deckt sich ihre private Leidenschaft mit ihrem Job.
Zum Treffen kommt Thalbach tiefenentspannt und auf die Minute genau eine Dreiviertelstunde zu spät, sie trägt einen schwarzen Jogginganzug mit roten Fledermäusen darauf. Auf der Bühne ist es grell, Männer in schwarzen Cargohosen schieben Kulissen herum.
Ihre Tochter gruselte sich einfach nicht
Anna Thalbach, 49, ist hier groß geworden, und zwar nicht nur sprichwörtlich. Sie kommt aus einer Theaterdynastie, die in mindestens vierter Generation Berliner Schauspielstars hervorbringt. Mit sechs Jahren war sie mit ihrer ersten Filmrolle in Cannes, als Tochter von Katharina Thalbach hat sie hier im Schillertheater ihre Kindheit verbracht. "Damals fand ich die Theaterleute immer ein bisschen doof", erzählt sie, während sie in Richtung ihrer Garderobe trottet und dafür schwere Stahltüren aufschiebt. "Tagsüber waren die voll nett und abends besoffen."
Ihr Talent mag Anna Thalbach von ihrer Mutter geerbt haben, die Liebe zu Horrorfilmen hat sie jedoch von ihrer Tochter Nellie. Die habe irgendwann, mit zehn oder elf, einen unersättlichen Hunger auf Gruselfilme entwickelt. Sie zeigte dem Kind sämtliche Tim-Burton-Filme, erhöhte auf Vampir- und Spuk-Klassiker, "aber die gruselte sich einfach nicht!" Thalbach war ratlos.
Damals drehte sie gerade einen Film mit Bela B., dem Schlagzeuger der Ärzte, einem ausgewiesenen Fachmann für Horrorfilme und -comics. Also fragte sie ihn um Rat: Was tun mit einer Elfjährigen, die sich vor nichts fürchtet? B. schrieb ihr eine lange Liste, darauf das große Einmaleins der Gruselfilme, von Klassikern wie "Shining" bis zu Found-Footage-Schockern wie "Rec".
"Die hab ich alle ganz brav auf DVD gekauft", erinnert sich Thalbach und kichert. "Und dann haben Nellie und ich die geguckt. Es gab nur drei Regeln: Wir schauen zusammen. Wir schauen bei Tageslicht. Und wir schalten aus, sobald sie Angst bekommt." (Letzteres trat nur ein einziges Mal ein, und zwar beim Auftritt der Zwillingsmädchen in "Shining".)
Und voilà: Als Mutter und Tochter Monate später mit der Liste durch waren, hatte sich Anna Thalbach quasi versehentlich ein enzyklopädisches Horrorwissen angefuttert. Mit der Nebenwirkung, dass sie nun selbst gierig nach mehr war.
Den ersten Gruselfilm sah sie mit vier Jahren
Sie betritt jetzt einen kleinen Raum mit Fenster zur Straße und einem breiten Schminkspiegel. "Willkommen in meinem Kinderzimmer." Vier gigantische Blumensträuße duften aus einer Ecke, Dankeschöns von der Premiere. Auf dem Boden stehen zwei leere Pilsflaschen, auf der Heizung hängen pinke Socken, auf dem Schminktisch liegen ein Kulturbeutel und ein gekochtes Ei.
Sie beginnt sich zu pudern und redet fröhlich weiter, in ihrer verrauchten, überraschend leisen Stimme (mehrfach prämiert mit dem Deutschen Hörbuchpreis). Einmal bringt eine Mitarbeiterin ihr Kaffee, zweimal zündet sich Thalbach eine Kippe am Fenster an, und je tiefer sie in ihrer Erinnerung gräbt, desto wacher scheint sie zu werden.
Ihren ersten Horrorfilm sah sie mit vier, im Kino mit ihrer Tante. Genau genommen war es kein Horrorfilm, sondern die Stummfilm-Komödie "Goldrausch" mit Charlie Chaplin. Darin sitzen zwei ausgehungerte Goldsucher in Alaska in einer Hütte fest, plötzlich halluziniert der große Dicke, Chaplin sei ein Huhn, das er essen kann. Für die vierjährige Anna: purer Horror!
Später, als Teenager, guckte sie Stephen Kings "Friedhof der Kuscheltiere" im Berliner Zoopalast, und zwar "durch meinen Rollkragen", und den "Exorzisten" sah sie auf der spiegelnden Küchenplatte eines Freundes. Direkt im Fernseher hätte sie Szenen mit der Teufelsaustreibung nicht ausgehalten. Nein, eine richtige Leidenschaft waren Horrorfilme für sie damals nicht. Eher eine Mutprobe. "Natürlich hat das auch was Masochistisches, bis heute", sagt sie über die Angst, über den Grusel, über das Kitzeln, wenn sie weiß, dass der nächste Jump-Scare gleich kommen muss. "Es ist ein bisschen, wie die Hand über die Kerze zu halten." Der große Reiz des Horrors sei, sich einer Gefahr zu nähern, ohne selbst gefährdet zu sein.
Ihre besondere Liebe gilt Splatterfilmen. Je mehr Blut, Gedärme, Eiter und Hirn es regnet, desto besser. Etwa in "Braindead", einem ihrer Lieblingsfilme, wo in einer Szene ein abgefaultes Ohr in einer Schale Pudding landet, das eine ältere Dame dann unwissentlich mit dem Löffel in den Mund ... "Uaaaaah", sie schüttelt sich und grinst. "Aber es ist liebevoll, es ist witzig!"
Mehr Blut! Das bringt Kostümbildner an ihre Grenzen
Auch bei den Proben zu "Marie-Antoinette" sei es meist sie gewesen, die von den Maskenbildnern mehr Blut verlangte. "Das muss richtig spritzen", findet sie, auch wenn sie damit den Kostümbildnern graue Haare macht, weil die dafür sorgen müssen, dass die Klamotten am Tag darauf wieder sauber sind. "Das ist für mich wie im Matsch spielen!"
Die Vorstellung rückt näher. Thalbach tuscht sich die Wimpern und ordnet währenddessen die einzelnen Subgenres ein. Davon gibt es im Horror schließlich Dutzende. Zombies? Findet sie "als Horrorwesen generell öde", die seit Ewigkeiten irre erfolgreiche Serie "The Walking Dead" sterbenslangweilig. Eine Ausnahme macht sie für die "Zombieland"-Reihe mit Woody Harrelson und Jessie Eisenberg, wegen deren großartigen Humors.
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Vampire? Liebt sie, die Filme seien "immer so schön romantisch". Wobei sie da seit Längerem eine Frage mit sich herumtrage: "Warum ist ausgerechnet der Vampir der Erotiker unter den Gruselwesen? Weil der ist doch blutleer. Das heißt, er kann doch gar keinen hochkriegen!"
Spukfilme findet sie zwar vorhersehbar - "ich weiß doch inzwischen, dass ich in einem alten Haus nicht einfach Kisten auf dem Dachboden öffne!" -, gruselt sich aber trotzdem gerne. Filme wie "Saw" oder "Hostel" haben ihr zu wenig Humor, generell sei sie für das Subgenre "Torture Porn" nicht sadistisch genug veranlagt. Gefährlich findet sie eher die "Ästhetisierung der Gewalt bei Lynch oder Tarantino".
Nein, für Anna Thalbach muss der Horror verspielt sein, metaphorisch oder märchenhaft. Wie "The Loved Ones", ihrem Lieblingsfilm, bei dem eine Highschool-Außenseiterin ihren Schwarm entführt. Oder "Drag me to Hell", von dem Thalbach so lange so begeistert erzählt, bis der Interviewer verspricht, ihn sich anzuschauen.
Thalbachs Tochter Nellie, mit der sie ihre Leidenschaft teilt, ist inzwischen Ende zwanzig. Die beiden wohnen seit Jahren nicht mehr zusammen, aber Horrorfilme gucken sie immer gemeinsam, es ist zu ihrer Tradition geworden. Erst gestern Abend haben sie eine neue Serie angefangen, "The Watcher", über eine Familie, die in ein altes Haus zieht und merkt, dass sie beobachtet wird. Anna Thalbach fand die ersten anderthalb Folgen gruselig und vielversprechend, weiter kam sie leider nicht: Ihre Tochter schlief irgendwann ein.
Keine Leidenschaft ohne Zubehör. Diese drei Dinge braucht Anna Thalbach fürs Horrorfilmgucken:
Die DVD
"Ich habe Hunderte Filme auf DVD. Früher hatte ich sie in einem riesigen Regal stehen, inzwischen habe ich aus Platzgründen die Hüllen entsorgt. Den Film 'Zeit der Wölfe' habe ich ungefähr 45 Mal gesehen. Ich finde den immer wieder toll. Die Atmosphäre ist ganz romantisch und märchenhaft. Ich liebe Märchen."
Die Figuren
"Dracula, Freddy Krueger, Frankenstein: Die stehen alle bei mir im Wohnzimmer. Ich sammle solchen Kram nur von Filmen, die ich gesehen und für gut gefunden habe. Besonders ehrgeizig bin ich aber nicht, die wirklich seltenen Sammelfiguren sind mir zu teuer."
Die Snacks
"Parmesanflocken aus der Tüte sind mein Popcorn für Zuhause. Und ja, ich gebe es zu: Ich trinke dazu am liebsten Red Bull, zum Leidwesen aller mich mögenden Menschen. Ich kann danach schlafen, mir macht das Koffein nichts. Mein Blutdruck ist niedrig genug."
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