Homosexualität und Gesellschaft:Lasst uns drüber reden!

Nie hatten es Lesben und Schwule in Deutschland so einfach wie heute. Ist da die sexuelle Orientierung überhaupt noch der Rede wert? Ja - denn gerade in Bereichen wie dem Profifußball wuchert die Homophobie. Um Normalität zu erreichen, braucht es Geschichten wie die von Hitzlsperger, Barbara Hendricks - oder dem Kollegen aus dem Nachbarbüro.

Ein Kommentar von Tobias Dorfer

Zwei Coming-outs gab es in den vergangenen zwei Wochen in Deutschland, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Das erste geschah, von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, kurz vor Silvester. Da wurde der neuen Umweltministerin Barbara Hendricks die Frage gestellt, wie sie ins neue Jahr zu feiern gedenke. In Berlin, auf der Dachterrasse des Bundestags, mit im Rucksack mitgebrachten Gläsern, einer Flasche Sekt und ihrer Lebenspartnerin, antwortete die SPD-Politikerin. Es folgten ein paar wenige Tweets, dann war das Thema abgehakt und kaum jemand hatte es mitbekommen. Das ideale Coming-out: unspektakulär verpackt in einem Nebensatz. Die sexuelle Orientierung einer Ministerin wird, sofern es überhaupt registriert wird, freundlich nickend zur Kenntnis genommen.

Am gestrigen Mittwoch war Thomas Hitzlsperger dran, dessen Zeit-Interview über seine Homosexualität sogleich einen Sturm der Solidarität auslöste. Die Öffentlichkeit überschlägt sich mit Lob, ehemalige Teamkollegen und Fußballfunktionäre sprechen ihm ihren Respekt aus. Online-Medien, auch Süddeutsche.de, machen mit dem Thema ihre Websites auf, die ARD-Tagesthemen und das Heute Journal im ZDF eröffnen ihre Sendungen mit der Geschichte des Ex-Nationalspielers, sie kommentieren und loben. Hitzlsperger ist der erste Held des noch jungen Jahres.

Was sagt das über unser Land aus und über sein Verhältnis zur Homosexualität?

Deutschland im Januar 2014 ist ein augenscheinlich tolerantes Land. Nie zuvor war es hierzulande so unproblematisch, schwul oder lesbisch zu sein. Anders als in vielen anderen Ländern, wo Homosexuelle verfolgt werden, gibt es in der Bundesrepublik ein Lebenspartnerschaftsgesetz, das Paaren beinahe die gleichen Rechte zusteht, wie einer Ehe von Mann und Frau (wobei bei letzterem nicht die Politik, sondern das Bundesverfassungsgericht drängende Kraft war). Ein Gesetz verbietet die Diskriminierung von Homosexuellen und anderen Minderheiten. Es gibt in großen Unternehmen Netzwerke für schwule und lesbische Mitarbeiter, Jobmessen für Homosexuelle und die ermäßigte Bahn-Card wird nicht nur Hetero-Ehepaaren, sondern auch Lebenspartnern angeboten.

Ein schwuler Politiker ist längst kein Tabu mehr, Regenbogenfamilien erziehen Kinder, lesbische Fußballerinnnen werden für ihren Sieg bei der Europameisterschaft gefeiert.

Alles gut also?

Ja. Und gleichzeitig nein. Denn es gibt noch immer gesellschaftliche Nischen, in denen Homophobie wuchert. Laut einer Studie der Humboldt-Universität verwenden noch immer 62 Prozent der Berliner Schüler (und wahrscheinlich unterscheiden sich die Zahlen in anderen Städten höchstens geringfügig) Begriffe wie "schwul" als Schimpfwort. Wer es in den Neunzigern auf dem Schulhof erlebt hat, wie das Schimpfwort "Schwuchtel" auf dem Schulhof Karriere machte, kann sich nur wundern, dass sich da so wenig getan hat. 46 Prozent der lesbischen, schwulen, bisexuellen und transsexuellen Menschen in Deutschland haben in einer EU-Studie angegeben, bereits wegen ihrer sexuellen Orientierung schikaniert worden zu sein. Jeder fünfte Schwule hat einer Studie der Universität Zürich zufolge schon einmal versucht, sich das Leben zu nehmen.

Das sind die Zahlen. Die Menschen dahinter sind zum Beispiel der schwule Consultant, der erzählt, er werde niemals Partner in seiner Beratungsfirma werden, wenn er kein Familienbild auf dem Schreibtisch stehen hat. Das lesbische Mädchen, dem die strenggläubigen Eltern ihre Homosexualität wegtherapieren lassen wollen. Und noch immer werden Homosexuelle körperlich und verbal schikaniert, von übler Nachrede auf Facebook oder anderen sozialen Netzwerken ganz zu schweigen.

Homos sind genauso langweilig wie Heteros

Für viele ist es jeden Tag eine neue Entscheidung: Rede ich oder halte ich den Mund? Stehe ich zu mir selbst oder verleugne ich mich? Jeden Tag gibt es unzählige Thomas Hitzlspergers, die diesen Konflikt mit sich austragen müssen und die keinen Lukas Podolski haben, der sie anschließend für ihre Offenheit lobt.

Für die ist das Coming-out von Thomas Hitzlsperger eben nicht gleichbedeutend mit anderen privaten Details aus dem Leben Prominenter, die das Publikum eigentlich nichts angehen. Natürlich, was wer mit wem im Bett treibt, ist in der Privatheit eigentlich ganz gut aufgehoben. Und deshalb ist es durchaus eine legitime Sichtweise, wenn Kicker-Chefredakteur Jean-Julien Beer mit seinem Magazin die Causa Hitzlsperger komplett ignoriert - mit der Begründung, in einem weltoffenen Deutschland sollten Sexualität und Religion eines Sportlers keine Rolle spielen.

Aber das ist nur der eine Teil der Wahrheit. Der andere ist, dass Thomas Hitzlsperger mehr ist als nur der bekannte schwule Ex-Fußballer. Er ist ein Sprachrohr für die, die sich noch nicht trauen - und für alle Heterosexuellen, die sich damit schwertun, die richtigen Worte zu finden. "Es wird Zeit, dass sich die Gesellschaft outet - als immer noch befangen." So hat ZDF-Moderator Claus Kleber den Bericht im Heute Journal eingeleitet. Und er hat in einem Punkt recht. Die Gesellschaft macht im Umgang mit Homosexualität viel richtig. Aber noch lange nicht alles.

Markus Hörwick, der Mediendirektor des FC Bayern München, hat nach dem Coming-out von Thomas Hitzlsperger folgenden Satz gesagt: "Die Gesellschaft nimmt für sich in Anspruch, dass so etwas Normalität ist, und so sollten wir auch damit umgehen." Nun soll an dieser Stelle weder Hörwick noch dem FC Bayern München Homophobie unterstellt werden. Und doch: Der Satz zeigt, dass ein unverkrampfter Umgang mit Homosexualität vielen schwerfällt. Schließlich könnte man Hörwicks Aussage auch anders verstehen: dass die Gesellschaft Schwule und Lesben normal findet und dass man sich (als FC Bayern oder als Fußball-Szene) dem eben anzuschließen habe.

Privates ist bedeutsam

Toleranz ist in der Theorie sehr leicht und in der Realität oft schwierig - zumal in Deutschland Meinungsfreiheit herrscht, die es grundsätzlich jedem Menschen erlaubt, ein Problem mit Homosexualität haben. Nicht selten hat diese Abneigung mit Unwissenheit zu tun - oder mit dem Zerrbild des aufgetakelten Federboa-Trägers und der kurzhaarigen Kampflesbe, das noch viel zu oft in den Medien vermittelt wird.

Diese Vorurteile können am besten mit demonstrativer Normalität bekämpft werden. Zum Beispiel wenn der ehemalige Bremer Bürgermeister Henning Scherf im Fernsehen von seiner Tochter erzählt, die mit ihrer Partnerin ein Kind großzieht. Wenn ein Jugendlicher in der Talkshow von Anne Will berichtet, dass man als Jugendlicher, der mit zwei Müttern aufwächst, nicht automatisch schwul wird (hier eine Aufzeichnung der Sendung). Oder eben wenn mit Thomas Hitzlsperger sich ein Mann outet, der es im Macho-Becken Bundesliga zum Nationalspieler und Deutschen Meister gebracht hat und der so gar nicht dem Klischee des Schwulen entspricht, das immer noch in so vielen Köpfen vorherrscht.

Deshalb ist das Private bedeutsam. Deshalb müssen die Lebensgeschichten von Thomas Hitzlsperger, von Barbara Hendricks und von vielen anderen Prominenten und Nicht-Prominenten immer wieder erzählt werden. So dass am Ende jeder weiß: Homosexuelle schauen Tatort, sie schmieren ihren Kindern Leberwurst aufs Brot, sind der Blutgrätsche mächtig, wandern am Wochenende in den Bergen oder trinken bei der Neujahrsfeier Sekt aus im Rucksack mitgebrachten Gläsern. Sie sind genauso langweilig wie die Durchschnittsheteros. Keiner muss sich von ihnen bedroht fühlen. Das wäre ein Schritt hin zu einer Gesellschaft, in der die sexuelle Orientierung tatsächlich keine Rolle mehr spielt.

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